Vom 6. bis 8. März waren in Wien Solist/innen und Ensembles aus ganz Europa in einem zeitgenössischen Eurythmiepanorama zu erleben: Mit einer großen Bandbreite an Stilrichtungen, von traditioneller und klassischer Eurythmie bis hin zu modernem Tanz und Tanztheater. Und ihren Mischformen. Mit dem ebenso gemischten Publikum, also traf sich ein kleines Abbild unserer Gesellschaften.
Zusammengestellt und organisiert wurde das Festival von Ernst Reepmaker und dem QUOVADIS Eurythmie Impresariat und fand an unterschiedlichen Aufführungsorten in Wien statt. Um die unterschiedlichen Blickwinkel auch für Menschen zu öffnen, die nicht vor Ort sein konnten, wurden die Tänzerin und Tanzwissenschaftlerin Suzan Tunca und ich eingeladen, über das Festival zu schreiben. Ausdrücklich subjektiv und aus unseren persönlichen und fachlichen Erfahrungen heraus. Gewünscht war, auch Beziehungen herzustellen zu anderen Kunstformen. In meinem Fall also der Literatur, daher tauchen immer wieder kurze Assoziationen zu literarischen Texten auf: Movopoesie eben.
Die Beschreibungen sind Resonanzen und keine Kritiken, erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und sind nicht als Kommentare aus der Eurythmie zur Eurythmie gemeint. Zu einem Festivalraum gehören auch unbedingt Gespräche ‚am Rand‘, die ja genau das einlösen, was die Organisator/innen sich wünschen, nämlich einen möglichst weit gespannten Diskurs anzuregen. Daher auch einige Notizen hierzu.
Ein Telefonat mit Ernst Reepmaker, 27. Februar
Ernst Reepmaker kenne ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Und doch entwickelt sich unser Telefonat einige Tage vor dem Festival so, dass im Verlauf des Sprechens miteinander ein Gefühl der Vertrautheit entsteht. Durch einige seiner Sätze wie: „Ich möchte auf dem Festival ins Gespräch kommen über künstlerische Impulse der Gegenwart, ich möchte nicht darüber debattieren, ob etwas Eurythmie ist oder nicht, Streitigkeiten darüber liegen hinter mir.“ Als Dozentin für Literaturwissenschaft, als Germanistin, verstehe ich, wiedererkenne ich, dass es meist ermüdend wird, wenn darüber gestritten wird, ob beispielsweise zeitgenössische Lyrik überhaupt noch Lyrik sei. Da interessiert mich – genau wie Ernst in Bezug auf die Eurythmie – die Frage viel mehr, welche Qualität an Gegenwärtigkeit im lyrischen Schreiben oder Sprechen auftaucht. Nun frage ich Ernst weiter, was denn gemeint sei mit den Impulsen der Gegenwart. Das sei das Gespür, die Wahrnehmung dessen, was in unserer Gegenwart, hier und heute, überall und jetzt, geschieht: Die Herausforderungen, die Nöte, der Reichtum des Vielen, die Verunsicherungen wie die Geschenke einer Offenheit: „Darüber will ich reden“. Ein Diskurs? Debatten? Diskussionen? „Ja“, sagt er, „wir sollten in der Eurythmie diskursfähiger werden. Darüber ins Gespräch kommen, was diesen oder jene bewegt, welche Intentionen er oder sie in seiner/ihrer Kunst hat.“ Gespräche also! Da kommt mir ein Dichter in den Kopf, dessen 250. Geburtstag wir in diesem März feiern: Friedrich Hölderlin, Schillers ‚liebsten Schwaben‘. In einem seiner Texte, der ‚Friedensfeier‘ heißt es:
Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet,
Ein Zeichen liegts vor uns, daß zwischen ihm und andern
Ein Bündnis zwischen ihm und andern Mächten ist.
Die Textform ist hymnisch und als diese, als Lobgesang auf eine in der Poesie erschaffene Welt, in der Getrenntes Verbindung erfährt, ist sie naturgemäß in freien Rhythmen gedichtet. Freie Rhythmen und ein freies Zueinanderfinden, das ist dem Festival zu wünschen. Und womöglich auch eine Beziehung zu spirituellen Dimensionen.
Ein Kaffee mit Hans Wagenmann, 1. März
Ich frage nach der Textur seiner Arbeit, und er spricht von einer Bachmotette, in der eine Grablegung thematisiert wird, von der daraus herrührenden Zeile „Komm, Jesu, komm, mein Leib ist müde“, von dieser Müdigkeit, der er nachspürt. In seiner Performance tauche eine Figur auf, beschreibt er, konkreter als eine Metapher, physischer als eine literarische Figur: ein toter Krieger und ein Priester, ineinander verwoben. Ein Aufgreifen von Müdigkeit, Verzweiflung und Not in Gesten, die dies sehen, nehmen, wandeln.
Die Bilder von der griechischen Grenze fallen mir ein. Unerträglich zu sehen, unerträglich in Wirklichkeit für die Menschen, die dort in Not sind. Werde ich das wiedersehen in der Performance? Das durch die Wände wollen, müssen und gehen? Die mir wichtige Frage: Bringt mich das den Menschen näher, die jetzt müde und erschöpft auf der Flucht sind und sich beheimaten möchten? Die mit zusammengerafften Gegenständen an einem Zwischenort sind? Spreche ich durch die Teilnahme an der Performance mit diesen Menschen? Kann ich mich öffnen und strahlt diese Offenheit? Bilde ich, wobei ich wieder bei Hölderlin bin, kein absolutes, ausgrenzendes Ich, sondern ein ein-vernehmliches, ein aufnahmebereites ‚Ich‘? Wird meine, unsere Angst vor Öffnung der Grenzen bewegt?
6. März
Ich sitze im Zug nach Wien und schaue noch einmal ins Programmheft. Es scheint wirklich divers zu sein. EurythmistInnen, PerformerInnen mit viel Erfahrung und langjähriger Auseinandersetzung mit tänzerischen, eurythmischen und kulturellen Strömungen. Junge Leute, die entweder in Ensembles und / oder Einzelvorstellungen zu sehen sein werden. Manche davon kenne ich als ehemalige Studierende und bin gespannt, wie sie sich nach Abschluss ihres Studiums weiterentwickelt haben. Meine große Hoffnung: Dass sie zu sich finden, in sich hineinwachsen mit einer gleichzeitigen Hinwendung in ihre Lebensumstände und -räume. Dass sie auch manches abstreifen, von dem ich früher meinte sehen zu können, dass sie es hindert, einengt. Dass sie zu ihren Kräften finden. Die so dringend gebraucht werden von unserer Gegenwart. Ich bin gespannt. Auch darauf, wie sie mit ihren Körpern umgehen, wie sie sie einsetzen, wie sie sie bewohnen, in ihnen zu Hause sind.
6. März Freitagabend
Hans Wagenmann: auszug. und kirchböden.boden
Miranda Markgraf: Das Neue steht und schweigt
Stefanie Scheubeck, die die Künstlerin und den Künstler des heutigen Abends choreographisch begleitet- und die Videoinstallation von Hans erstellt hat, zitiert vor den Performances die Lyrikerin Brigitte Oleschinski mit Sätzen aus der ‚Schweizer Korrektur‘, einem Essay-Gespräch gemeinsam mit ihren Kollegen Durs Grünbein, Peter Waterhouse und dem Verleger Urs Engeler von 1997.
„Seit ich mich erinnern kann, haben Gedichte für mich etwas mit Bewegungen zu tun, mit gestischen Abläufen und körperlichen Impulsen, die eine Zeile, einen Gedanken nach außen öffnen, weg von mir und weg von seinem Ausgangspunkt. Gedichte – das wäre eine mögliche Beschreibung – gehen über Grenzen, von denen ich nicht weiß, ob ich sie überqueren kann. (…) Ich habe Angst, einem Gedicht über diese Schwellen zu folgen, jedes Mal, aber in der Angst vibriert zugleich eine unbändige Lust, es zu tun.“
Dieses Zitat passt, wie ich um vieles später am Sonntagabend den Eindruck hatte, auf vieles beim Movopoesie Festival.
Hans Performance Titel lese ich erst einmal: höre die Wiederholung der Laute klingen, bemerke seinen Rhythmus und sehe, dass sich die Substantive verkleinern und in die Nähe von Verben, also Tätigkeiten, rücken. Und der Kirchboden, die Böden? Auf dem Boden einer Kirche. Unterbödig stehen christliche Kirchen oft an Stellen, auf einem Grund, der für ältere Kulturen auch schon ein Kraftort war. Die Performances von Hans und Miranda ziehen mich auf sehr unterschiedliche Weise gleichermaßen in den Bann. Ich erlebe unterschiedliche Richtungen: Bei Hans erinnert mich die künstlerische Bewegungsform an eine lyrische Form, die einer Ode. Aufgespannt zwischen Himmel und Erde, vertikal also. Sehr irdisch sind die Assoziationen, die durch die Videoinstallationen ausgelöst werden: Eine Gewalteinwirkung, die nicht zu sehen ist, deren Wirkungen jedoch eine Physis haben. Einerseits sind es mythische Figuren, deren Verwundung erinnert werden: Parsifal zum Beispiel. Andererseits sind es wir alle, so in unseren Körpern die Verwundungen der zwei Weltkriege des letzten Jahrhunderts stecken genau wie mögliche individualgeschichtliche Wunden. Die Figur eines Kriegers könnte es sein in der Installation. Aufgenommen sind die Bewegungen in einer leeren Fabrikhalle, einem Unort, Zwischenort. Hier sehe ich tatsächlich vor meinem inneren Auge als Resonanz des Videos Bilder von Flüchtlingstrecks am Ende des zweiten Weltkriegs genau wie Bilder aus der heutigen Tagesschau von Flüchtlingen vor den Grenzen Europas. Sehr deutlich wird der Bezug zum Titel ‚Heimaten‘: Heimat als Ort, als Nicht-Ort, vor allem aber als Frage nach einer Identität bei Flucht, Vertreibung und Heimatverlust. Passend dazu ist, dass der Künstler in kurzen Blitzen in schemenhafter Nacktheit erscheint.
Die Performance auf der Bühne ist dann verwandelnd, der Krieger ist ein Betender geworden. Sind es zwei Figuren oder eine? Verschiedene Aspekte einer Figur? Körper erscheint als Ort von Gewalteinwirkung und als Weg in eine Umwandlung, in Neuland. Am Ende ist Ruhe, die Figur zugedeckt liegend auf der Bühne. Es ist still, ob es friedlich ist, diskutieren wir nach der Aufführung draußen vor der Tür. Die Eindrücke gehen auseinander, was uns nicht stört. Das ist gut. Die Performance ist gründlich, aber nicht zwingend.
Miranda hat, so Stefanie in der Vorrede, Impulse aus dem Butoh Tanz und Meditation aufgenommen. Aha, denke ich, noch bevor ich etwas sehe. Es wird um alte und wieder-holende Formen von Bewegung und Stille gehen, in unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Ausprägungen vermutlich. Und so ist es: Die Figuren auf der Bühne wechseln die Kleidung, mit der Kleidung ihre Kultur, ihre Rollen, ihre Identitäten. Es scheint, als ob bei jedem Wechsel es Nacht und wieder Tag wird, als ob mit den abgestreiften und übergestreiften Kleidern die Sonne auf und unter geht. Sehr starke Momente sind die Wirkungen der kulturellen Gewänder im Körper der Performerin. Verkörperlichte Geschichte und Geschichten mit jedem geknoteten Band eines Kleidungsstücks. Neben den körperlichen Veränderungen sind die inwendigen Bewegungen und die völlig veränderte Aura einer Person zu spüren.
Diese Wechsel sind lebendig. Mal lustig, mal traurig, mal befremdlich. Ich bin überrascht über mich selbst: Es geht mir gut beim Dabeisein. Die Gleichzeitigkeit von Widersprüchen – eine Figur summt selbstvergessen Kinderlieder auf Koreanisch und ihre Gesichtszüge entgleisen immer wieder und verzerren sich – ist nicht unangenehm, sondern gut, weil sie so echt ist. Still schmeichelnde Träume und das Auskotzen kultureller Verstümmelungen, das ist doch das Leben in einem horizontalen Pluralismus, der für viele von uns typisch ist. In vielen von uns stecken viele. Die Performance nimmt mich mit in die Wiederholungen kultureller Körperaufführungen, die, obwohl nacheinander präsent, doch wie horizontal ausgebreitet wirken. Die Künstlerin spricht danach von der Elastizität des Rhythmus, vielleicht ist es das, was das Nacheinander aufhebt. Die Übergänge, Brüche und Reibungen sind genau markiert und doch fließend. Vor allem durch die wechselnden Atembewegungen sind die sich überlappenden Zeitschichten, die eine kulturelle Identität ausmachen, in der das Koreanische und das Deutsche (für die Künstlerin) und das Wasundwoherauchimmer (für alle von uns) spürbar wird. Fühlt sich nicht gemütlich, aber richtig im Sinne von stimmig an. Interessant scheint mir, dass beide Performances sich um Identitäten als Beheimatung drehen, einmal nackt bis auf die Haut, einmal in wechselnden Gewändern.
Samstag, 7. März
Der Samstag stellt ein sehr diverses und reichhaltiges Programm vor, wobei die einzelnen Programmpunkte von klassischen Ansätzen, die ihre Bewegungskonzeption aus der Historie der Eurythmie schöpfen, bis zu Ansätzen reichen, die aus einer gegenwärtigen Qualität und ihren pluralen Bewegungsperformanzen schöpfen. Auch meine Einblicke reichen dementsprechend von Einblicken in historische Formen einer klassischen Eurythmie bis zu Teilnahme an einer Performance, in der ich keine Zuschauerin, sondern Teilhaberin bin. Auch die erzählten Bildwelten sind divers. So dass ein Spannungsfeld beschritten wird, mal im Allgemeinen, mal im Besonderen. Jona Lindermayer erforscht Bewegungsmodalitäten von Ellbogen, von Knien, von Hüften, von Schultern, von Füßen oder vom Kopf. Eigentlich als eine Duo Performance konzipiert, ist sie wegen des Fehlens der erkrankten Kollegin allein auf der Bühne. Ihr Alleinsein und die sie oft umgebende Stille erlebe ich als ungeheuer wohltuend, weil ich in dieser Stille die Körpergeschichten ungestörter innerlich beantworten kann.
Besonders die Arbeit am Herzchakra, besser an den Herzchakras, kommt mir entgegen. Es gibt ja das Herzchakra, im Sanskrit Anahata Chakra genannt, das ein Ort, Raum ist, in dem ein ewiger, allgemeiner, menschheitsumspannender Ton sich mit einem individuellen, persönlichen trifft, der naturgemäß auch eine endliche Komponente hat. Es wird vorne in der Brust verortet und bringt Phänomene des Blutkreislaufs oder des Blutdrucks zusammen. Ich spüre bei der Begleitung der Bewegung auf der Bühne, dass mein Herzschlag sich verändert, obwohl ich weiterhin recht still auf einem Stuhl sitze. Zudem gibt es eine zweite Herzchakraqualität, die des Hrid Chakras, des denkenden fühlenden Herzens. Dieses Chakra, dieser Wirbel, wie man übersetzen könnte, wird in der Mitte der Brust nah an der Wirbelsäule verortet und kennt keinen Widerspruch zwischen Denken und Fühlen, im Gegenteil betont eine humane Qualität des Ineinanders. Beide Chakras sind für mich in der Performance gut zu spüren und erzeugen in mir eine Art von offener Unverkrampftheit und Beweglichkeit. Durch die Körperteilgeschichten, die mir zum Beispiel ein Becken erzählt, fließt die Lebensenergie ungestört. Ich lese auch eine Geschichte, die Geschichte der Menschheitsentwicklung, die in jeder/m einzelnen von uns neu erzählt wird: Ob als Höhlenbewohner/in oder als vernetzte Person, wir bauen uns Räume, schließen Kreise, kämpfen mit und an Grenzen und ringen darum, im Hineinnehmen von neuen Äußerungen oder äußeren Einflüssen, das alte, sicher lieb gewordene, aber oft irgendwann einengende Zuhause zu verlassen. Vorsichtig und mutig zugleich verlässt die Performerin am Ende den alten Zirkel. Ich denke an den Aphorismus des griechischen Naturphilosophen Heraklit, der, ich gebe es zu, fast schon zu Tode zitiert ist. Und doch, sein „Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει“(Pánta chorei kaì oudèn ménei), was etwa „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt“ heißt, kommt mir in diesem Entscheidungspunkt individueller und kollektiver Menschheitsgeschichte in den Sinn. Bemerkenswert ist auch das Zusammentreffen der Programmpunkte des Sonntagnachmittag:
Nach der Arbeit mit kosmologischen Texten, die sich ebenfalls auf die Entstehung der Menschheit, um den Streit zwischen Finsternis und Licht dreht, wird diese Einzelperformance noch einmal aufgeführt. Diesmal in der schwerleichten Architektur der Wotruba Kirche am Georgenberg. Hier begegnen sich als Programmpunkte die klassische Eurythmie, die aus historischen Bewegungsmustern heraus arbeitet mit einer Suche nach sich weiterentwickelnden eurythmischen Bewegungsidiomen. An mir selbst fällt mir auf, dass ich bei ersterer Zuschauerin bleibe, teils gestresst bin, weil ich, ohne es zu wollen, versuche, zu übersetzen. Wie eine erzwungene Rückübersetzung von Text in Bewegung wieder zurück in Text. Ich werde vom semantischen Drachen gefressen und bleibe draußen, weil ich mich nach Übersetzungen frage. Mir kommt es so vor, als ob unter den großen Betonklötzen der Kirche ein Kampf mit Idealen tobt, mit dem Streben, diese Ideale zu erreichen.
Bei der zweiten Aufführung entspanne ich mich wieder. Ohne verstehen zu wollen oder zu müssen, ohne Idealisierungsdruck kann ich den schnellen Läufen durch die Kirche folgen, selbst wieder in Bewegung kommen. Ohnehin ist das Erleben von Tanz in der sehr speziellen Architektur dieser Kirche besonders. Fritz Wotruba war einer der großen Repräsentanten der Moderne in Österreich. Die von ihm konzipierte Kirche entwirft eine Metapher für eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig trägt und stützt. Das gegenseitige Interesse der höchst unterschiedlichen Eurythmievorstellungen profitiert von den scheinbar schwebenden Betonquadern. Sind Widersprüche auch in der Eurythmie nur scheinbar?
Zum Zusammenwirken von Architektur und Tanz fällt mir ein Leitspruch von Hilde Domin ein, der Dichterin, die nahezu das gesamte letzte Jahrhundert erlebt, erlitten und erschrieben hat: „Ich setzte einen Fuß in die Luft und sie trug.“ Das war das Motto, das sie ihrem ersten Gedichtband, 1963 nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht, vorausschickte.
Über Samstag und Sonntag verteilt gibt es Programme, die Geschichten erzählen, teils mit teils ohne Textgrundlagen. Wie arbeite ich als Tänzer, wenn ich gänzlich auf einen Ursprungswerk (Text oder Musik) als Fundament verzichte, diese Frage hat sich Thomas Feyerabend gestellt. Schon allein diese Frage interessiert mich: Sie bringt wie den Künstler auch die Zuschauer/innen weg von der manchmal quälenden Aufgabe der Interpretation. Ich lese also seine Aufführung einmal wie einen Text, ohne sofort in die Deutungsfalle zu tappen.
Dabei werde ich berührt, sehe einen Tänzer, der einen alternden Menschen vorstellt, der Spuren und Erinnerungen in sich trägt. Ich lese die erinnerten Bilder, die in den Bewegungen auftauchen: Kriegserfahrungen, Liebesbeziehungen, Bilder von gescheitertem und gelungenem Leben, Munterkeiten, Menschen tauchen auf, verschwinden wieder. Mir kommt es vor wie eine Mischung aus kollektiver und persönlicher Erinnerung. Mit der Alltagssprache und dem Alltagsbewußtsein ist das nicht zu erfassen, was mir deutlich angenehm ist. Auf der Bühne erlebe ich gleichzeitig unterschiedliche Erzählqualitäten: ich sehe diese erzählte Figur, die sogar einen Namen hat, Linus Kranz, sehe von dieser Figur erinnerte, in Bewegung erzählte andere Figuren und spüre deutlich an manchen Stellen einen angenehm altmodischen allwissenden Erzähler. Diese Gleichzeitigkeit lässt eine Spannung entstehen, in die ich als Leserin einsteigen kann oder auch nicht. Ich werde nirgendwohin didaktisch gezogen. Es stört mich dabei in keiner Weise, dass das Programm sehr genau durchchoreographiert ist, ich sehe das Konzept, das mir aber genügend Raum lässt. Die Figur, die auf der Bühne ist, ist eine Figur von heute, von uns. Die ganze deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts steckt der Figur in den Knochen, und es scheint, dass die Gegenstände aus dieser Geschichte, mit denen sich die Figur umgibt, nicht ihr zur Verfügung stehen, sondern umgekehrt, jeder Gegenstand scheint eine Erinnerungsbindung auszulösen. Die schön sein kann, aber auch erschöpfend sein kann, ein Erinnerungszwang? Die Angst, in dem permanenten Erinnern das Alltagsgeschäft nicht erledigen zu können, ist ein höchst aktuelles Thema. Ich erlebe auf der Bühne eine burn out Erfahrung, Verknöcherungen. Die Ansprüche, die aus der Geschichte erwachsen und die alltäglichen Ansprüche lassen Gehetzt- sein entstehen.
Eine andere Methode, eine Geschichte zu erzählen, stellt das Wiener Eurythmie Ensemble vor mit ihrem Stück Thomas der Lügner. Sie hat als Textgrundlage Zitate aus einem Schelmenroman von Jean Cocteau. Der Erzählrahmen ist sehr festgelegt, es gibt einen deutlichen allwissenden Erzähler, der alle Figuren kennt, ihre Schicksale im Voraus weiß, und der dadurch den Blick der Zuschauer/innen recht festgelegt hält. Vielleicht passt dieser allgemeine Rahmen zur Geschichte? Es sei, so wird erzählt, eine wahre Geschichte, obwohl sie nie stattgefunden hat. Die Figur des lügenden Thomas bleibt ein Typ, bei aller Heiterkeit oder Groteske, die seine Lebensgeschichte innehat. Natürlich kann diese Methode, Geschichten zu erzählen, vor allem in Zeiten der großen Unordnung hilfreich sein, wie in der Barocklyrik die strenge Form inmitten chaotischer Bedrohung Halt und Sicherheit vermittelt. Ich frage mich, ob dies eine zeitgemäße Form der Erzählung sein kann? Oder gerade doch? Sein Leben spielen? Ist es das, was wir tun, wenn wir Selfies machen? Die Figur Thomas‘, des Lügners, ist sympathisch. Er glaubt an sein Spiel, seinen Schwindel, ist also alles andere als ein Lügner. Mich erinnert er an die ebenso sympathische Figur des Felix Krull von Thomas Mann, dieses „Vorzugskind des Himmels“, eine Parodie auf den Held klassischer Entwicklungsromane. Beim Zuschauen ist die Typisierung der Figuren erheiternd, die Bedeutungsschwere des Erzählstils löst in mir den Wunsch aus, die Geschichte davon zu befreien. Das Allgemeine droht das Besondere zu verdecken. Auch die Wahrheit der Geschichte zu sehr zum Tableau werden zu lassen.
Ein anderer Baustein von Eurythmietheater ist die Performance des Hamburger Eurythmietheaters Orval: Meluna, die kleine Meerjungfrau. Ein Familientheater: bunt, laut, lustig, traurig, mit wunderschönen, phantasiereichen Kostümen, herrlich mitreißender Musik und Darstellern, die ihre verschiedenen Rollen, die sie wechseln wie ihre schillernden Kleider, mit einer ungeheuren Energie ausfüllen. Schauspiel und Eurythmie. Um es vorweg zu nehmen, die Aufführung endete in großer Freude. Die Geschichte der kleinen Meerjungfrau wurde nämlich umgeschrieben. Im Original stirbt sie, die sich in einen Menschen verliebt und damit aus ihrer angestammten Umgebung herauswagt. Genau das tut sie in dieser Fassung auch, zahlt schon einen schmerzhaften Preis, den Verlust ihrer Stimme, dafür, aber gewinnt einen völlig neuen Lebensraum und die Liebe anderer Wesen für sich. Eine starke Aussage, die im Publikum Glück verbreitet: Meluna ermächtigt sich zu einem selbst gewählten Leben, und dafür wachsen ihr Füße und Wege zu. Das tut gut in unseren Zeiten, in denen Migration von Menschen, das Verlassen alter und das Gewinnen neuer Lebensräume solch existentielle Themen sind.
In meinem Kopf taucht schon wieder Hilde Domin auf. Der große Wegbereiter dieser Selbstermächtigung, dieser freien Wahl, ist nämlich in der Performance die Musik, ich übersetze das auch auf die Lyrik hin, von der Hilde Domin in ebenfalls politisch und gesellschaftlich bewegten Zeiten gesagt hat, dass sie unnütz und unverzichtbar zugleich sei. In ihrem Aufsatz ‚Wozu Lyrik heute‘ schreibt sie:
„Das heißt, alle Künste bieten diese Pause an. Ohne dies Innehalten, für ein „Tun“ anderer Art, ohne die Pause, in der Zeit stillsteht, kann Kunst nicht angenommen werden, noch verstanden noch zu eigen gemacht.“
„Deine Verrücktheit ist meine Wissenschaft“. Der Satz taucht in der Performance von Milena Hendel und Odetth Zettel mit dem Titel GeGender auf. Unsere zeitgenössische Art, vernetzt zu kommunizieren, wird auf der Bühne abgebildet. Wir tauschen uns aus. Sprachlich, aber auch körperlich und auch in unseren Identitäten. Erleben wir uns ans Geschlecht gebunden oder erleben wir es als austauschbar? Die Vielschichtigkeit wird auf der Bühne platziert über Interviews, Podcasts, Tanz, Musik, Text, Kostüme. Waren es bei der Performance von Miranda Markgraf kulturelle Identitäten, die wechselten, sind es jetzt geschlechtliche. Beides Mal ist auffallend, dass diese Wechsel gleichermaßen lustvoll wie schmerzhaft sein können. Dass das Hinein- und wieder Hinausschlüpfen in Geschlechteridentitäten auch die Spannung zwischen Selbstliebe und Selbsthass zeigt. „Wieviel wäre weg von dir, wenn dein Geschlecht weg wäre?“, so lautet eine Interviewfrage.
Ich frage mich, ob es, da eine Frau auf der Bühne ist, einen Frauenkörper ohne Geschichte gibt? Ohne die Festlegungen auf Dualitäten, wie Heilige oder Hure, ohne die Folter- und Verbrennungsspuren der so genannten Hexen? Ohne die überhöhten Mutterbilder und den Mädchenmißbrauch? Ja, die Frau auf der Bühne und ich, wir sind Hexen und wir sind Bräute, die in der Hochzeitsnacht vergewaltigt werden, wir sind zwangsverheiratet und wir sind Marilyns im Fitnessstudio, wir sind Sisi im Ballkleid und die Businessfrau. Für mich als Zuschauerin sind alle da, alle fühlbar, fast schon wie in einem alten Körpergehirn, das sich da in der Tänzerin wie ein Reptil windet oder bis in sehr feine, kaum sichtbare Bewegungen zeigt. Wir führen Geschlechter auf, permanent, ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht. Mir fällt Judith Butler ein, eine amerikanische Philosophin, die herausgearbeitet hat, wie wir in Sprechakten und Körperlichkeiten Geschlechtsfestlegungen unbewusst aufführen, um sie dann wiederum immer aufs Neue bewusst zu bestätigen. Judith Butler denkt den Körper als Körper und gleichzeitig als Konstruktion von Körper, lohnenswert, sich damit zu beschäftigen. Ich denke auch an einen Roman mit dem Titel Middlesex von Jeffrey Eugenides, für den er 2003 den Pulitzerpreis bekam. Die Hauptfigur des Romans, ein so genannter Hermaphrodit, beschreibt dort, wie er, der als Mädchen aufwuchs und später als Mann weiterlebte, in seinem tiefen, erlernten Körperbewusstsein sich mit einem inwendig erinnerten Mädchen als erwachsener Mann auf der Straße bewegt. Auf mögliche Bedrohungen reagiert, ausweicht, sucht. Die durch die Performance ausgelösten Assoziationen sind anregend, wie Kunst anregt, die meine Welten bewegt und mich mir selbst gegenüberstellt.
Zu dieser Performance passt ein Gespräch, das ich mit einer jungen Eurythmistin, Tänzerin, Performerin draußen vor der Tür über die Qualität der Performativität habe. Sie sagt, es sei immer politisch, wenn sie auf der Bühne stehe, ob das gewünscht sei oder nicht. In einer Performance habe alles Anteil: ob jemand hinaus will und den Raum verlässt, ob jemand draußen vor den Türen, an den Grenzen wartet und hinein will. Permanent fände Kommunikation statt, ihr Anspruch sei, dass in die Performance, in Körperbewegungen, mit hinein zu nehmen. Dabei sei ihr wichtig, bestimmte Haltungen zu erforschen, nicht weg zu wollen, sondern auch das auszuhalten, was eine Körperhaltung nach oben spüle.
Global village lautet der Titel der Performance von Tatjana Rudenko, Henry Harmer und Marthy Hecker. Er nimmt Bezug auf den Begriff eines der wichtigsten Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts, Marshall McLuhan, der 1962 in seinem Text ‚The Gutenberg Galaxy‘ unsere Welt als globales Dorf beschrieb, dass durch die mediale Vernetzung zusammenwächst. Er beschreibt sehr weitsichtig Wohl und Wehe dieser Entwicklung. Die Performance greift das Phänomen auf, dass sich in unserer gegenwärtigen Welt mediale Realitäten selbst bespiegeln, dass Fotos wichtiger werden als innere Selbstbilder und dass Erlebnisse nur noch interessant und wichtig scheinen, wenn sie sofort gepostet werden: Ich mache Selfies, also bin ich.
Für mich ist einer der wichtigsten Effekte der Performance, dass sie zwar diese Gegebenheiten und ihre Wirkungen vorstellt, aber eine Art von kritischer Reflexion erzeugt, die nicht bevormundend und didaktisierend ‚rüberkommt‘, sondern luftig in der Beobachtung und empathisch mit den Figuren bleibt. Das erst macht die Verbindung mit den Situationen und Figuren möglich für mich. Auch die Überspitzung ins Groteske und die musikalische und textliche Begleitung wirkt befreiend. Sehr interessant ist, dass das Thematische der Performance auch Teil seiner Form ist. Wir erleben ein Geschehen auf der Bühne und gleichzeitig lesen wir die Kommunikation darüber und dazu per WhatsApp auf einer Leinwand. Eine interessante künstlerische Methode, Performativität zu erforschen, sehe ich bei Ihoch3. Im eurythmischen Vokabular probieren die vier Künstlerinnen (Selma Fricke, Jona Lindermayer, Michaela Prader und Emmanuel Rechenberg) zwei Wege aus: zum einen, eine Appassionata von Beethoven choreographiert, zum anderen improvisiert zu gestalten. Einer der Künstler berichtet davon, wie sie methodisch vorgegangen sind: Zunächst habe man sich völlig eingelassen in ein freies Spiel der Bewegungsmodalitäten, in freie Monologe oder/ und Dialoge. Bei der Arbeit an einer festgelegten Choreographie dann sei es zu lebhaften Debatten gekommen, ja, zu heftigen Diskussionen. Diese Art zu arbeiten, ist sie nicht ein Abbild unseres Experiments, wenn wir in pluralen Gesellschaften leben? Jürgen Habermas spricht davon, dass wir in solchen Gesellschaften, ob zu viert auf der Bühne oder, sagen wir in Mitteleuropa, ein Konzept des kommunikativen Handelns brauchen. Uns so lange reiben und debattieren, bis wir die Individualität und die Gemeinschaft gleichermaßen leben können. Schwierig. Kein Wunder, kommt es bei den Künstler/innen zu Auseinandersetzungen. Ich bin ihnen dankbar: Dass sie davon berichten, dass sie es zeigen in der Bewegung: eine Art geordnetes Chaos, im Miteinander, Durcheinander, Ineinander, Ohneeinander, Nebeneinander, Gegeneinander. Alles da. Sowie, ich erinnere noch einmal an das Hölderlin Zitat zu Beginn, ein Gespräch mehr als Gequatsche ist, es ist immer eine kommunikative Handlung, eine dynamische Tätigkeit. Was mir auffällt: Eben noch müde, verändert sich meine Atmung, meine Füße werden warm, ich fühle mich belebt, mit bewegt, es ist was los in mir. Die Dynamik zwischen dem Alleinsein und dem All-Ein-Sein, die ich erlebe, ist als eine Dynamik in mir gut zu fühlen. Ja, es macht Spaß. Hat mir Beethoven schon einmal solch einen Spaß gemacht? Ich weiß es nicht. Sogar das Keuchen der Tänzer/innen, die da Hochleistungssport betreiben, stört mich nicht. Auch nicht beim Hören. Was mir im Insgesamten aufscheint: Am Du, an einer Gemeinschaft zum Ich erwachen. Ich kann das richtig nachvollziehen, vor allem in den langsamen Wechseln. Manchmal habe ich den Eindruck, dass etwas wie ein Meer entsteht. Immerhin aus vier Menschen! Ein in der Tiefe atmendes Meer, in das jede/r einzelne hineinatmet. Ich denke an Michel Foucault, der die Metapher vom menschlichen Antlitz nutzte, um die Aufgabe der Person im Tod zu beschreiben, in dem das Antlitz wie eine Welle im Meer aufgeht. Naturgemäß verschwimmt. Im Wässrigen beginnt und endet. Oder gar nicht beginnt und gar nicht endet. Zugegeben, es ist eine arg bemühte und fast schon banale Metapher. Deswegen wünsche ich mir sie konkret zu sehen, also in mehr Beckenarbeit bei den Körpern auf der Bühne. Das Becken als Ort eines tiefen, dunklen Sees. Oder Meeres. Die Tänzer/innen trauen sich schon in eine berührende Zeitlupenzärtlichkeit.
Bei der Improvisation vor allem, die streckenweise doch noch sehr gebunden an die Choreographie ist. Habt Mut, möchte ich den vier jungen Leuten zurufen, habt Mut und löst Euch von Euren selbstgegebenen Regeln. In ein freiwilliges Abenteuer, weg von den choreographierten Sofas, die ja festgelegte Codes immer sind. Ich frage mich, wie intim Bewegungsidiome werden dürfen? Insbesondere, wenn Beethovens Apassionata gegen Ende hin aus den Wellen Funken schlägt. Der Pianist und Improvisateur Michael Gees macht die schier kaum auszuhaltende und gleichzeitig beflügelnde Kreativität Beethovens nachgerade kongenial hörbar.
Bei der Aufführung des Else Klink Ensemble aus dem Stuttgarter Eurythmeum ist das Kind-sein Thema, die Texte, die bearbeitet werden, kenne ich gut, zum einen sind es Texte von Peter Handke mit Sätzen wie „als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war“ und Ausschnitten aus einem Gedicht Selma Meerbaum-Eisingers, die in beengten Verhältnissen zur gleichen Zeit wie Paul Celan und Rose Ausländer in Czernowizc in der Bukowina im heutigen Rumänien aufwuchs und nach offenen Blicken und einem Weg in die Welt suchte. Sie wurde von deutschen Truppen während des zweiten Weltkriegs erst in ein Ghetto verbracht und starb schließlich in einem Lager. Ihre Lyrik ist jugendlich lebendig, in der Zärtlichkeit und der Neugier wie in der Verzweiflung, dem Entsetzen. Die Worte haben eine starke Wirkung, ich freue mich, dass ihre Texte und ihr schreckliches Ende auftauchen. Einer der Texte heißt „Ich möchte leben“. Ein Ausschnitt lautet:
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben
und hassen und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Oder ein anderer kleiner lyrischer Text trägt den Titel Tragik:
Das ist das Schwerste: sich verschenken
und wissen, daß man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken;
daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.
Ihre Texte, lange verschollen, nehmen verschlungene Wege und werden gerettet. Schließlich von Jürgen Serke herausgegeben. Selma Meerbaum-Eisingers Texten geht jedwede heldische Geste ab, es gibt nirgendwo eine sich aus dem Text herausschraubende Überhöhung. Während ich der eurythmischen Bearbeitung des Stuttgarter Ensembles zuschaue, bemerke ich, wie groß die Herausforderung ist, auf solche Texte ohne Stilisierung und Idealisierung künstlerisch zu antworten.
Ich wünsche mir für die zeitgenössische Eurythmie eine Debatte darüber, wie mit dem Phänomen des Idealen umgegangen werden kann. Ist das Ideale im Schillerschen Sinne des Idealischen fern von „der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten“, die „in trüben Strudeln sich wälzen“ zu suchen? Oder eher in Georg Büchners Sinn im Respekt vor dem individuellen Schicksal? So verderbt und trüb es auch sein mag. Ist Schönheit fern des Allgemeinen oder Idealen in der unverwechselbaren Erscheinung eines jeden Menschen zu suchen? In Büchners Erzählung Lenz heißt es: „Die schönsten Bilder, die schwellendsten Töne gruppieren, lösen sich auf. Nur eins bleibt: eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert. Man kann sie aber freilich nicht immer festhalten und in Museen stellen und auf Noten ziehen, und dann alt und jung herbeirufen und die Buben und Alten darüber radotieren und sich entzücken lassen. Man muss die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als die bloße Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegenschwillt und pocht.“ Wenn dieses Plädoyer Büchners, dass er seiner Kunstfigur Lenz, die sich wiederum auf einen Schriftstellerkollegen bezieht, der an seiner Zeit und ihren herrschenden Idealisierungen zerbrochen ist, aufgegriffen würde, bräuchte es dann womöglich eine Eurythmie, die sich von ihrer eigenen Idealgestalt löst? Vielleicht kann dieses so genannte Kunstgespräch in der heutigen Eurythmie weitergeführt werden.
Man muss auch das Allgemeine persönlich darstellen – Hokusai
Petra von der Lohe, M.A. Geboren 1962 im Grenzland zwischen Deutschland und Holland. Lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bonn. Studium der Germanistik und Kommunikationsforschung in Bamberg und Bonn. Tätigkeiten im Bereich von Politik und Öffentlichkeitsarbeit. Unterrichtet heute an unterschiedlichen Hochschulen Literatur, Kommunikationswissenschaft und poetisches Schreiben.