Festival Rezension

MOVOPOESIE – 3. Eurythmie Festival Wien 2020

MOVOPOESIE - 3. Eurythmie Festival Wien 2020 | Foto: © Neil Baynes

Eine Zusammenarbeit zwischen dem Quo Vadis Eurythmie Impresariat und dem Zentrum für Eurythmie in Wien.

Freitag, 6. März, Spitzy Auditorium

Das Festival beginnt im Spitzy Auditorium des Orthopädischen Spitals Speising, ein konfessionelles Krankenhaus in der christlichen Tradition und Wertehaltung. Die Geschichte dieses Spitals ist verbunden mit der Ordenskongregation der “Dienerinnen des Heiligen Geistes”, eine internationale missionarische Ordensgemeinschaft der katholischen Kirche die in 1889 in den Niederlanden gegründet wurde. Wenn man die Eingangshalle jenes Seitenflügels des Spitals betretet wo sich auch das Spitzy Auditorium befindet, sieht man zu seiner linken Seite in hellblauen Neonbuchstaben geschrieben: “Es lebe der heilige – Dreieinige Gott – in uns und in den Herzen aller Menschen.”

Ernst Reepmaker begrüßt | Foto: © Neil Baynes

Ernst Reepmaker begrüßt das Publikum, welches soeben vor dem Eingang die Hände desinfiziert hat, mit dem Aufruf achtsam und wachsam mit der Situation des Corona Virus umzugehen. Er verspricht uns für die kommenden Tage einen Querschnitt durch die Eurythmie, von der Klassik bis zur Moderne, ein Panorama von dramaturgischen Konzepten und deren Verkörperlichung aus verschiedenen Interpretationsperspektiven der internationalen zeitgenössischen Bühnen Eurythmie Szene.

Hans Wagenmann: auszug und kirchböden.boden
Im Programmheft liest man die Überschrift. “Geht und schaut. Vergebt dem Leichnam. Es bleibt der schmale Rand, die kurze Rast ihn aufzufinden.” Man liest dort auch, dass sich diese Soloperformance aus einer ästhetischen Perspektive entwickelt, die sich bewusst einem ersten Verstehen entzieht. Diese Performance ist der dritte Teil des Heimaten Zyklus.

Hans Wagenmann – AUSZUG UND KIRCHBÖDEN.BODEN | Foto: © Neil Baynes

Es beginnt in der Dunkelheit, der Körper van Hans (oder wessen Körper eigentlich?) liegt bäuchlings auf dem Boden, die Füße weisen in die Richtung des Publikums, der Kopf in die Richtung der Hinterwand der Bühne. Während der Performer regungslos liegenbleibt, werden zwei Videos projektiert, die uns Hans in verschiedenen Räumen, zu verschieden Zeiten und in und mit verschiedenen Bewegungssituationen und Sequenzen zeigen. Man sieht wie Hans sich in großen leeren Räumen durch seine Bewegungen hindurch auseinandersetzt mit einem Stück Pappe, mit einem weißen Tuch, mit einem Stock, mit seinem nackten Körper. Der Videoschnitt von Stephanie Scheubeck erzeugt eine Wahrnehmung von Zeitabschnitten die sich überschneiden, eine Fragmentierung linearer Zeit, wobei Vergangenheit, Zukunft, Orte, Wege, Spuren und Erinnerungen und der jetzige Moment im Spitzy Auditorium miteinander zusammenfallen und zu sprechen beginnen, jedoch in einer Sprache deren Bedeutungsinhalt nur intuitiv erfahren werden kann. Es geht hier vielleicht weniger um die Fähigkeit zu entziffern was mit den bewegten Bildern gesagt werden will, als um ein sich öffnen gegenüber des Unbekannten und dessen Spuren in den Bewegungen eines Körpers, der mehrere Leiber mit sich auf die Bühne bringt. Der Performer im Jetzt-Raum liegt immer noch bewegungslos, und ich frage mich was sich wohl im Innern des regungslos liegenden Performers abspielt während wir die Bilder sehen wo dieser Körper steht, schweigt, sitzt, läuft und davonrennt. Ich erfahre später im Gespräch mit Hans das das bäuchlings auf dem Boden liegen zum Bewegungsvokabular einer katholischen Priesterweihe angehört. Wenn dann der Körper des Performers (Hans) den wir auf dem Video sehen auf einem Stück Pappe liegend zur Ruhe kommt, treten wir hinüber von der fragmentierten Zeit in den Video Projektionen in den Jetzt-Raum des Auditoriums. Beide liegen jetzt flach auf dem Boden, der Performer in dem Video auf einem Stück Pappe und der Performer hier, in dem Raum, in dem wir Zuschauer uns auch befinden.
Er sitzt nun mit dem Rücken zum Publikum. Er ist schlicht und einfach gekleidet, ohne jeglichen Glamour. Das Kleidungsstück welches seinen Oberkörper, seine Hände und Arme bedeckt hat er sich über sein Gesicht gezogen, es wird eine Maske, eine Mumie, er wird mehr als nur sich selbst. Seine Bewegungen halten inne in bewegten und bewegenden Skulpturen aus innerlicher Starre. Der bewegende Körper nimmt Haltungen an die sich wie einzelne Kunstwerke bestehend aus mehreren Lagen von geistig-körperlichen Substanzen in den Raum hineinkristallisieren. Ich kann die Bedeutungen der Formen, in denen der Körper innehält, nicht erahnen, aber man spürt ihre Tragweite, ihre innerliche Schwere und unbenannte Bedeutungskraft. Die transformierenden Haltungen der innerlichen Starre erscheinen als Zeichen und auch als Fragezeichen. Als er seine Hände und sein Gesicht entblößt sind seine Augen geschlossen. Es erscheint als suche er reales, innerliches Licht hinter der Dunkelheit der geschlossenen Augenlider. Er setzt das Zeichen der geöffneten Arme, er kriecht rückwärts auf seinen Knien, und ich denke an die Hoffnung und Hoffnungslosigkeit der Flüchtlinge an den von der einen Seite geöffneten, jedoch von der anderen Seite geschlossenen Grenzen. Er gräbt mit seinen Fingernägeln in dem Bühnenboden, er hält seine Hand vor sein Gesicht, zwei Arten der körperlichen Artikulation in einer Geste vereinend, die haltende Hand und die gehaltene Hand.
Er vollzieht eine Diagonale mit wiederholter Niederwerfung, eingeschlungen in dem Schlauchtuch, das seinen Körper verbirgt, ihn jedoch mehrere Leiber miteinbeziehen lässt.

Ich frage mich wie der Performer für sich selbst die vierte Wand definiert. Seine Augen und die Augen des Publikums treffen sich nicht. Bewegt er sich in einer performativen Logik einer symbolischen Narrativität, die das Zusammentreffen des irdischen und des metaphysischen zu erleben versucht im geteilten Wahrnehmungsraum mit den Zuschauern? Jede Geste spricht Bänder über das nicht zu wissende, er folgt einem inneren Rhythmus von beginnen und innehalten, dem ich nicht entnehmen kann inwieweit die Gesten vorbestimmt sind oder im Moment entstehen. Immer wieder zieht er sich zurück in sein Mumienschlauchtuch, das Leichentuch, gefüllt mit dem Lebensträger seines Körpers, und endet liegend auf dem Rücken, jetzt horizontal zum Publikum, ruhend, schlafend, sterbend, unter einer Decke.

Miranda Markgraf: Das Neue Steht und Schweigt
Eine Performance über Verluste und das Finden von Trost, über die Abwesenheit von Vertrautem, über eine Koreanisch-Deutsche Migrationsgeschichte und über die Möglichkeit eine Identität zu finden die kulturelle Diskrepanzen miteinbezieht aber letztendlich überschreiten kann.

Miranda Markgraf – DAS NEUE STEHT UND SCHWEIGT | Foto: © Neil Baynes

Auf der linken Seite sehen wir Till Münkler mit seinem Cello. Die solo Performerin Miranda sehen wir auf der Bühne, zitternd, verloren und einsam. Aus dem performativen Bewusstsein heraus das alles auf eine beinahe objektive Weise reflektieren kann, beschaut sie ihren erbärmlichen Zustand, und legt ihn dann mit einer symbolischen Geste ab. Sie wechselt ihre Kleidung – ein anderes T-Shirt, eine andere Hose und es werden rituell Accessoires auf der Bühne arrangiert, die sich aus einem goldenen Tuch entfalten und eine häusliche Tee oder Mahlzeit Zeremonie aufrufen. Die Performerin erlebt sichtbar Zweifel und Verzweiflung, das Cello unterstreicht ihre innerlichen Gemütsregungen. Über ihre weiße Hose zieht sie jetzt ein türkisfarbenes Koreanisches Tuchkleid, und schließt einen Knoten aus den äußeren Zipfeln des Tuches über ihrer Brust, eine Geste, die sie kurz davor schon ohne Tuchkleid mimisch und demonstrativ dem Publikum mitteilte. Auf die Visualisierung des Knotens, folgt die Aktualisierung wie durch eine kulturelle Metamorphose und Zeitmaschine. Was für Gefäße breitet sie da auf dem goldenen Tuch aus? Sind es Teetassen? Opfergefäße? Ein Mittagstisch? In Eile packt sie diese wieder zusammen und nach einem erneuten Kleiderwechsel verkörpert sie einen älteren Mann gebeugten Rückens, röchelnd hustend, eine andere Person ist über Miranda jetzt mit auf der Bühne. Und wieder wechselt sie das Kleid, und eine ältere Dame tretet jetzt mit ihr ein. Aus einem tragbaren Kassettenrecorder klingen süße Koreanische Kinderlieder und sie singt mit, vollkommen anwesend und verloren in einer Kindheitserinnerung. Das Kind ist da, die alte Dame ist da, der alte Mann – die ganze Familie? Auf einmal kommt der Klang nicht mehr über den kleinen Kassettenrecorder, aber über die Klang Installation der Bühne. Was man hört klingt wie eine moderne Pop Interpretation eines traditionellen Koreanischen Liedes, durch eine Frau gesungen. Die Performerin öffnet alle ihre Sinne, etwas Größeres als sie selbst und die Persönlichkeiten ihrer Familie manifestiert sich jetzt. Miranda singt im Playback mit der Koreanischen Sängerin mit. Ihre Körpersprache ist durchatmet, zierlich und graziös, als ob immer wieder Impulse aus dem Zwerchfell heraus sie in der Leichtigkeit der Bewegung halten. Es ist jetzt irgendwie die Seele im Raum, eine beinahe unpersönliche, objektive Präsenz, die mehrere Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte und viele, viele Familiengeschichten mit sich mitträgt. Ab und zu verschmilzt das Gesicht und fällt der Körper der Performerin aus der klassischen Form eines traditionellen Bewegungsvokabulars. Sie beugt sich aus der vertikalen Haltung heraus, nach hinten, nach oben, bricht die Formen auf, um sie wieder zurückzufinden. Sind diese Verfremdungen als eine Kritik an die kulturell geprägte Tradition zu lesen, oder als Zweifel an der Zugehörigkeit zu dieser Tradition welcher parallel mitschwingt mit einem selbstverständlichen “zu Hause” sein in dem koreanischen Bewegungsidiom?

Aus dieser Traumszene werden wir wieder wach in einem Alltagslicht. Sie zieht sich wieder um und trägt nun wieder das einfache T-Shirt und die Hose. Das Cello kommt jetzt wieder in den Vordergrund. Man erfährt eine Art Reibung zwischen was der Cellist spielt und der geschriebenen Komposition (oder die Komposition trägt diese Reibung schon in sich). Wieder innere Gemütsregungen, die durch das Cello gespiegelt werden, dann ein Rennen im Kreis, ein imitieren eines gemeinschaftlichen Ringtanzes wobei man die Hände festhält und dann wird wieder ein neues Bewegungsthema introduziert, gezeichnet durch Kurven, abstrakte Rundungen, Biegungen. Jetzt sieht man deutlich einen anderen Körper, einen zeitgenössisch bewegenden Körper, losgelöst von den Traditionen.

Nachgespräch

Stephanie Scheubeck, Hans Wagenmann, Miranda Markgraf im Gespräch mit
Suzan Tunca | Foto: © Neil Baynes

Suzan fragt wie die Künstler die verschiedenen Körperlichkeiten in ihren Performances erfahren, ausarbeiten und interpretieren.

Hans Wagenmann spricht von der Körperlichkeit als den eigentlichen Boden, dem Kirchenboden. Er arbeitet mit der Imagination eines toten Körpers, dem ein Priester innewohnt.

Miranda spricht von einem “wir”, dass aus ihr heraus über verschiedene Ebenen des Verlustes spricht. Der Koreanische Tanz, den sie während der Playback Szene ausführt (aus ihrem Bewegungsgefühl heraus, ohne ihn wirklich gelernt zu haben) ist gekennzeichnet durch elastische Tempi, man zählt nicht, der Atem gibt den Maß. Im Koreanischen Tanz erfährt man im Tanz eine Elastizität in der Zeit.
In Bezug auf “Zeit” fragt Hans mit jeder Bewegung: Wer bin ich eigentlich? Wer oder was ist wann oder wie beteiligt, wenn ich die Hand öffne?

Miranda Markgraf – DAS NEUE STEHT UND SCHWEIGT | Foto: © Neil Baynes

Miranda erarbeitet sich ihre Körperlichkeit durch die Überschneidung verschiedener Einflüsse: Eurythmie, Butoh, Koreanischer Tanz, Zeitgenössischer Tanz – und erschafft sich so eine tänzerische Identität. Sie wuchs auf zwischen Kulturen, halb Deutsch, halb Koreanisch, und wollte sich zugehörig fühlen ohne es zu können. Sie fühlt sich sehr Verbunden mit der koreanischen Tradition, aber arbeitet mit kulturunabhängigen Themen wie Schmerz, Sehnsucht und Erfüllung. Es gibt auch Gesellschaftliche Aspekte, die im Koreanischen im Vergleich zu Deutschland noch sehr ausgeprägt sind, wie zum Beispiel der Respekt vor den Älteren, die täglichen Rituale und das tiefe Gefühl von Verbundenheit.

Stephanie Scheubeck & Nele Ahrens | Foto: © Neil Baynes

In der Zusammenarbeit mit Miranda und Hans, fiel Stephanie vor allem auf, wie beide Feinstofflichkeit und Energie in ihr künstlerisches Schaffen miteinbeziehen. Sie nimmt in beiden eine andere Körperlichkeit wahr, eine Körperlichkeit, die mit Synästhesie in Verbindung gebracht werden kann, man riecht Farben und sieht Töne …
Es ist eine nicht greifbare, aber anwesende Körperlichkeit. Stephanie beschäftigt sich in ihrer Forschung mit Synästhesie und Tanz.

Aus dem Publikum kommt die Frage was die Künstler in ihren Arbeiten als etwas Eurythmisches, nicht Tänzerisches erfahren.

Für Stephanie hat dies mit der Art von Feinstofflichkeit zu Tun die in diesen Arbeiten miteinbezogen ist.

Miranda bezieht sich auf ihre Erfahrung mit der Kindergarteneurythmie. Wenn man nicht bekannt ist mit wie diese erarbeitet wird, kann man denken das man da mit einer Art von Zauberei beschäftigt ist. Es geht aber einfach darum das Gesten stark innerlich ausgearbeitet werden, mit einem Bewusstsein der Bewegung als Sprache. Jede Bewegung hat einen Grund, nur kann man als Zuschauer diesen Grund nicht immer lesen.

Eine andere Stimme aus dem Publikum meint, das letztendlich alles einfach schön sei, das Eurythmische und das Tänzerische.

Ernst Reepmaker fügt hinzu, dass die Spannung zwischen dem Tänzerischen und dem Eurythmischen etwas erzählt. Eine eurythmische Geste trägt in sich eine Herausforderung. Bewegungen zwischen verschiedenen Gesten wohnt ganz bewusst eine Sprachbedeutung inne. Es hat etwas zu tun mit Metamorphosen und den Möglichkeiten der Sprache.

Hans Wagenmann – AUSZUG UND KIRCHBÖDEN.BODEN | Foto: © Neil Baynes

Eine Frage an Hans: Ist was Du machst Eurythmie?
Hans antwortet, dass er was er heute tut nicht ohne die eurythmische Erfahrung tun könnte, dass er es aber nicht Eurythmie nennen würde. Eurythmie sei nur eine Art von Untergrundvokabular. In seiner Performance setzt er nur zwei Lautgebärden ein, weiterhin arbeitet er nach eigenem Empfinden auf eher elementaren Ebenen: das Strecken, das Beugen, konkav – konvex. Irgendwie widersetzt sich etwas in ihm, diese Frage zu beantworten. Es ist soviel Anderes auch mit dabei. Es reiche ihm zu sagen, das er Versuche Kunst zu machen.

Für Miranda ist das ähnlich. Die Eurythmie ist ein Einfluss unter anderen. Was sie aus der Eurythmie mitnimmt ist der Umgang mit dem Raum und die Bewusstseinsarbeit.

Suzan fragt wie die Arbeit mit dem Seelenraum zu der „Technik“ der Eurythmie gehöre.

Für Hans bleibt die Eurythmie eine unter mehreren Inspirationsquellen. In seinem Zyklus Heimaten fragt er nach der Bedeutung der Mehrzahl dieses Wortes und ob es überhaupt möglich sei, dieses Wort auch als ein Verb einzusetzen.
Er befragt das Asyl und warum er sich überhaupt diese Frage stellt. Er richtet sich auch auf die Schattenseiten des Menschseins, auf die Aggressivität, auf den Menschen als Opfer und als Täter. Wenn sein Großvater ein Nazi war, was bedeutet das für ihn?
Wie verhalten sich die Afrikanischen Masken, mit welchen er aufgewachsen ist zu seiner Kunst und der Frage nach Heimaten? Ist Heimat eine Identität? In seinen Bewegungen spielen all diese Aspekte mit, auch die Musik von Mahler, die Kunst von Rothko, von Bacon etc. Und wo liegt zwischen all diesen Elementen die Heimat für uns?

Aus dem Gespräch mit Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Petra von der Lohe über diesen ersten Abend des Movopoesie Festivals zurück in der Tram, schreibe ich diese vier Worte in mein Notizbuch: embodiment, disembodiment, enlightenment (East-West), Aufklärung.

Samstag, 7.März, Spitzy Auditorium

Jona Lindermayer & Johanna Lamprecht: Manto, in Variationen

Jona Lindermayer – MANTO, IN VARIATIONEN | Foto: © Neil Baynes

Die Komposition Manto des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi ist der Ausgangspunkt dieser Performance. Während Scelsi’s Wortwahl des Titels Manto sich auf den Namen einer Sibylle aus der griechischen Mythologie bezieht, arbeitet Jona Lindermayer in ihrer Auseinandersetzung mit dieser Komposition aus der Übersetzung des Wortes Manto als Mantel heraus. Die Komposition Scelsi’s für solo Viola entfaltet sich um und aus dem Phänomen eines Klanges an sich.

Es beginnt mit einer Stille. Jona situiert ihren Körper auf asymmetrischen Schwellen der Balans, sie bewegt sich in einem Grenzgebiet, sie sucht durch die körperliche Aktivierung von verschieden Balanspunkten im Raum die Möglichkeit, und auch das Risiko, eines Hinübertretens zwischen zwei Welten. Ihr Blick ist klar.
Eilig zeichnet sie einen Kreis auf dem Bühnenboden, eine subtile, aber wirksame Grenze ist jetzt gezogen mit Bewusstsein und mit Kreide zwischen ihrem Performance Raum und dem Wahrnehmungsraum der Zuschauer. Wenn sie den Kreidekreis betritt, scheint sich ihr Innenleben beruhigt zu haben, man kann die schützende Wirkung des Kreidekreises in Ihren Augen, ihrer Ausstrahlung und in ihren Bewegungen lesen. Sie kann jetzt noch offener in das Publikum schauen, das Publikum zur Teilhabe einladend. Nach und nach füllt Jona den Raum mit Gesten, die sprechen ohne Worte. Sie öffnet sich dem Raum mit einer sich nach hinten lehnenden, nach oben hin beugenden Wirbelsäulenachse, wiederum an der Grenze eines Balans Zustandes. Sie neigt sich in den Raum, sie legt ihre Bewegungen in den Raum, als würde sie unterstützt von unsichtbaren Händen. Ihre Bewegungen sind autonom im Verhältnis zu den Klängen von Scelsi. Sie schaffen eine eigene Dynamik und Textur, die die tonale und atonale Klangwelten Scelsi’s eine menschliche Dimension zufügt. Es ist jedoch keine Alltagsmenschlichkeit die Jona hier bewegt. Es ist ein anderer Bewusstseinszustand der die Bewegungen klingen und sprechen lässt, wie gleichzeitig zwischen zwei Welten lebend. Während unsichtbare Tanzpartner mit in den inneren Raum ihres Performance Kreises hineingelassen werden, stößt sie auch andere Einflüsse von sich ab, schiebt sie über die Grenze außerhalb des Kreises. Es folgt eine Wiederholung des Gesehenen, ohne Wiederholung zu sein. Sie tritt aus dem Kreis, blickt zurück. Im Zurückblicken entsteht Bewusstsein.

Katharina Okamura & Pia Secondo: In-Zwischen

Duo Katharina Okamura & Pia Secondo – IN-ZWISCHEN | Foto: © Neil Baynes

Die beiden Performerinnen stehen sich gegenüber an der äußersten Grenze, links und rechts auf der Mittellinie der Bühne. Sie vollziehen synchron und einander spiegelnd eurythmische Gebärden, während ein Text vorgetragen wird, der spricht über ein vergessenes Wissen welches – im Gegensatz zum Messen der Zeit über Schattenwerfung – zurückzufinden sei in einem Bewusstsein des Raumes.
Es soll ein Wissen entstehen wobei die Zeit “durch Euch hindurchführen” wird. Katharina und Pia tragen klassische Eurythmische Kleidung mit Schleier und auch der Lichtentwurf aus in einander übergehenden Pastelltönen mutet klassisch eurythmisch an. Sie nehmen eine dezidierte Haltung an, die auf eine direkte Weise ein Gefühl für Sozialethik austrägt. Sie bekleiden sich mit edler Anmut, sie sind sich ihrer selbst bewusst, sie sind sich bewusst über den Zwischenraum zwischen ihnen und ihrer Verantwortlichkeit jenen gemeinsam zu gestalten, sie sind sich bewusst von den Bedeutungslagen, die aus dem Text in den Bewegungen mitschwingen und noch von vielem mehr.
Ihre Bewegungssprache zeichnet sich auch durch eine gewisse Formalität aus, die jedoch deutlich von innen getragen ist. Es ist keine Formalität, die von außen heraus von dem Körper abverlangt wird. Vielleicht wäre Formenbewusstsein ein besseres Wort die Bewegungssprache zu charakterisieren. Dann werden wir übergossen mit einer wunderschönen live Interpretation von Arvo Pärts Fratres durch Nathanael und Edgar Petri mit Bratsche und Klavier . Während Pia und Katharina unermüdlich den Zwischenraum zwischen ihnen, zwischen den Bewegungen und der Musik und zwischen den Bewegungen und den Zuschauern ausarbeiten und – man kann es durchaus sagen – mit Liebe füllen, entstehen Schattenspiele auf der Hinterwand der Bühne, die beide Performerinnen jeweils verfünffacht in Schattenformen wiedergeben. Ich denke an die Aussage das die Eurythmie sichtbar machen will was geistig in der Musik lebt, und ich glaube das Pia und Katharina dies sehr gut, auf ihre eigene Weise, jedoch voll im eurythmischen Vokabular eingebettet, wahrnehmbar machen. Sie verlieren niemals die Kontrolle über die Bewegung, was vielleicht die Ursache dessen ist, dass ihre Bewegungssprache aus der Sicht des zeitgenössischen Tanzes etwas Formales in sich trägt. Ihr Blick zeugt von einem ausgeprägten Raumbewusstsein und es gelingt beiden die Intensität der Musik durch das Öffnen ihrer Körper zum Raume hin zu tragen. Alles ist symmetrisch und harmonisch.

Um die Beine ein wenig in Bewegung zu bringen, ziehe ich in der Pause durch das Treppenhaus des Orthopädischen Spitals. An den Wänden ist dessen Geschichte in Bild und Text nachzuvollziehen. Eine Zeile Text springt mir hierbei ins Auge: “In den Schwachen ist meine Macht gewaltig.” Als ob das bisher Gesehene, Gehörte und Gefühlte mich dafür empfänglich gemacht hat, diese Worte in mein Bewusstsein eindringen zu lassen.

Thomas Feyerabend: Brainstorm – Preview

Thomas Feyerabend – BRAINSTORM – PREVIEW | Foto: © Neil Baynes

Wir sehen auf der Bühne Thomas Feyerabend alias Linus Kranz backstage, zwanzig Minuten vor seinem Auftritt. Auf der Bühne mit ihm: ein Tisch mit einem Leuchtbirnen umringten Spiegel, Make-up Accessoires, ein Talisman, ein Stuhl, Schuhe. Linus hat Lampenfieber, Thomas auch? Beide – Thomas und Linus – sind Perfektionisten. Jede Geste scheint festgelegt, das Timing und die Dramaturgie sind minutiös ausgearbeitet. Thomas und Linus haben leuchtende Augen, inspirationsgefüllt, könnte man sagen. Beide haben einen inneren theatralen Raum aus dem mühelos zwischen verschiedenen Ausdrucksformen gewechselt werden kann, tanzen, singen, sprechen quellen aus ihm heraus. Thomas hat nach der Körper-Seelen Sprache gesucht die Linus’ Alter und Müdigkeit und das auf seinen Schultern stets schwerer lastende Gewicht sichtbar und lesbar machen kann. Dies ist ihm gut gelungen. Linus spricht sich selbst Mut zu, es schwingt in seiner Persönlichkeit etwas von selbst Sabotage mit, zugleich mit der Ahnung eines Genies. Als ob die selbst Sabotage nötig sei um die Energie des Genies bändigen und umsetzen zu können. Als er im Schneidersitz gegenüber dem Publikum sitzt, haben wir eine andere Möglichkeit in seiner Welt mitzugehen. Die innerliche Spannung des Lampenfiebers schuf zuvor eine Art Widerstand oder Wand, die den Performer von dem Zuschauer auf einem gewissen Abstand hält. Thomas hat viel Raum in seinen Bewegungen, auch auf einer kleinen Bühne bewegt er als stünde er auf einer sehr großen Bühne, die ein weitreichendes Projektionsvermögen beansprucht. Seine Bewegungen sind immer ausdrucksstark. Es bleiben noch zehn Minuten bis zum Auftritt. Er spielt von einem Kassettenrecorder seine eigene flüsternde Stimme ab. Er lässt sich durch sich selbst etwas zuflüstern, als Ablenkung, als Beruhigung, als Medizin. Das Eis zwischen der tief ausgearbeiteten Perfektion von Thomas und Linus und mir (und vielleicht auch anderen Zuschauern) bricht erst als er sich eine Taucherbrille aufsetzt und Springseil hüpfend eine Kaskade von Wörtern ausruft, die möglicherweise seine ewigen Inspirations- und Trostquellen sind: Christus! Bach! Beethoven! Hier bricht etwas durch die vierte Wand. Als Linus’ Performance beginnt, hört Brainstorm-Preview auf. Ein außergewöhnlicher, origineller und in gewisser Weise auch tiefenpsychologischer Einblick hinter die Bühne, der gleichzeitig auch Fragen aufwirft über Zwang und Freiheit, Genie und Wahnsinn, Kontrolle und Verletzlichkeit als Mensch – und durch das Vergrößerungsglas des Theaterlaboratoriums hindurch – als selbst schaffender Performance Künstler.

Eurythmie Ensemble Wien: Thomas der Schwindler

Eurythmie Ensemble Wien – THOMAS DER SCHWINDLER | Foto: © Neil Baynes

Über eine Kombination von Bewegungstheater, Schauspiel und live Musik werden Highlights eines Schelmen Romans von Jean Cocteau auf die Bühne gebracht. Die Eurythmisten Sofia Verteletskaia, Donata Jankowska, und Angelus Huber bringen das Bewegungstheater. Der erzählende Schauspieler ist Florian Dubois und Life Musik wird gespielt von Hanna.

Florian Dubois | Foto: © Neil Baynes

Florian Dubois eröffnet das Spiel und spricht das Publikum direkt an. Er erinnert uns an den Film La vita e bella wo ein Jüdischer Mann und sein kleiner Sohn während des Zweiten Weltkrieges in einem Konzentrationslager gefangen werden, wie beide aus dieser absurden Situation auf tragikomische Weise herauswachsen indem der Vater für den Sohn den Schein aufrechterhält das sie sich in einem sehr spannenden inszenierten Spiel befinden, wobei der Sohn alle Anweisungen seines Vaters folgen muss um das Spiel gewinnen zu können. Auch Cocteau’s Thomas der Schwindler spielt sich während eines Krieges ab (der Erste Weltkrieg). Den Krieg als großes Theater zu begreifen wird hier als einzig mögliche Rettungsboje gesehen, um das Leiden und die Absurdität ertragen zu können. Die zeitlosen Themen Tod, Sein, Schein, Wahrheit, Auferstehung, Bedrohung und Untergang werden hier aufgefangen und zur Frage gestellt. “Nicht die Wirklichkeit zählt, sondern mit welchem Erfindungsreichtum man sich über sie hinwegsetzt.”
Florian Dubois spricht in der einleitenden Publikumsansprache auch über Schiller und über seine Idee des spielenden Menschen als etwas das das Menschsein essentiell kennzeichnet.

Während des zu sehenden Spieles, aber auch in dessen Verlängerung während des Spieles des Lebens, solle man selber entscheiden was Wahrheit ist.
Ich frage mich, zu welchem Schauspielgenre diese Art von Theater einzuordnen ist. Man fühlt sich irgendwie zurückversetzt in der Zeit, als ob sich diese Art von Theater auf einer anderen Zeitschiene bewegt als was man heute so in den größeren Theatern West und Nord Europas zu sehen bekommt. Ist es eine Weiterentwicklung historischer Schauspielmethoden? Was ist zeitgenössisch in der Weiterentwicklung? Wie verhält sich dieses Theatergenre zur ästhetischen Logik des postdramatischen Theaters? Was für eine Rolle spielt hier die Repräsentation? Welches Mensch- und Weltbild liegt hier zu Grunde? Deutlich zentral steht das Verhältnis zwischen Text und Bewegung. Auch hier frage ich mich, wie ist das Verhältnis zwischen Text und Bewegung hier konzipiert? Ist die Bewegung eine Repräsentation des Textes? Ist es ein symbolisches Verhältnis? Ein symbiotisches Verhältnis? Inhaltlich bleibt mir bei, dass die Idee von mehreren Lebenslinien, von Reinkarnation, hier als Mittel zur Relativierung eingesetzt wird, und dass es um die Liebe an sich geht, aus der Fantasie und Erfindungsgabe, Spieltrieb und Wirklichkeitssinn entstehen können. Hier erkennt man deutlich ein Anthroposophisches Weltbild, welches Dimensionen des Lebens und der Wirklichkeit thematisiert, die im zeitgenössischen Theater sofern ich das einschätzen kann kein zu Hause haben. Wie wäre es möglich dieses Weltbild, dieses Wissen in ein zeitgenössisches, postdramatisches Bewegungstheater auszuarbeiten? Im Gespräch mit Angelus Huber, erklärt er, dass es beim Verhältnis zwischen den Bewegungen und dem Text nicht um ein symbolisches oder allegorisches Verhältnis gehe, sondern um das in Bewegung umsetzen der Wesenhaftigkeit der Sprache. Da wird dann gefragt: wie drücke ich das Wesen der Sprache aus? Ich frage dann: wo ist hier der Mensch? Ist er/sie ein Medium zur Manifestation? Inwieweit muss sich die Bewegung der Wesenhaftigkeit der Sprache unterwerfen? Kann sie nicht auch unabhängig von der Wesenheit und Narrativität der gesprochenen Sprache entfalten? Das ist die Autonomie der Bewegung die im zeitgenössischen Tanz als sehr wichtiger Entwicklungsschritt erfahren wird. In seiner eurythmischen Arbeit forscht Angelus nach Gesetzen und wie diese Gesetze in Bewegungstheater widergegeben werden können. Er spricht auch von dem Verhältnis zwischen Urbild und Abbild, so wie wir es aus der Bibel kennen. Dann frage ich: wie kann ein biblisches Verstehen des Verhältnisses zwischen Urbild und Abbild in der zeitgenössischen Eurythmie sich zur De-hierarchisierung, Dekonstruktion und Demokratisierung verschiedener theatraler Elemente im zeitgenössischen Theater sinnvoll verhalten? Welche Gesetze sind hier mit im Spiel? Wie verhalten sich kosmische Gesetze zu der Evolution der Kunstform des Theaters? Angelus spricht von dem Vorhaben eines nächsten Projektes wo das Narrative in die Abstraktion des Verhältnisses zwischen Bewegung und Musik sublimiert werden soll. Das könnte eine sinnvolle Richtung sein.

Maartje Brandsma & Philipp Tok: Anbeginn – Very beginning

Maartje Brandsma & Philipp Tok – ANBEGINN – VERY BEGINNING | Foto: © Neil Baynes

Ein Zusammenkommen von Eurythmie und Grafik aus dem Thema des Beginnes heraus. Die Suche nach dem Ursprung der Schöpfungskraft wird hier über zwei künstlerische Medien im Dialog miteinander und mit der Wahrnehmung des Zuschauers auf die Bühne gebracht. Maartje rennt aus dem Treppenhaus des Spitzy Auditoriums auf die Bühne. Sie trägt ein rotes Kleid, das durch die Qualität des Reibungsgeräusches zwischen dem Stoff und ihrem Körper im schnellen Lauf erahnen lässt, dass es ein Kleid aus rauer Seide ist. Das Zurückfinden ihrer inneren Ruhe ist der Beginn meines Wahrnehmens der Bewegungen ihres inneren Wesens. Sie ist barfuß, groß und elegant. Ihre performative Präsenz verrät das sie schon viele, größere Bühnen bespielt hat, das hat sich in ihr und um sie herum akkumuliert. Sie rennt eilig Linien auf die Bühne, horizontal zum Publikum, von rechts nach links und wieder zurück. Wäre die Bühne ein Blatt Papier, dann ist es als ob sie eine unendliche Linie zeichne, bis das ganze Blatt ausgefüllt ist. Wenn sie stillsteht, balanciert sie die Arme diagonal und hochwärts streckend, ihr Körper steht wie ein Ypsilon im Raum. Ihre Präsenz reicht weit über ihre körperliche Form heraus. Sie erfüllt den Raum mit ihrem Sein und der Raum erfüllt ihren, irgendwie erhabenen, Körper. Sie vollzieht abstrakte Handlungen wie das Zeichen von Mustern im Raum auf eine existentielle Art und Weise. Die Anstrengung die erforderlich ist, um ihre starke performative Präsenz aufrecht zu erhalten, bringt sie immer wieder außer Atem. Man kann sehen, wie die Schweißtropfen aus den Poren ihrer Haut treten. Eine Grafik aus der Hand von Philipp Tok ist auf die Hinterwand der Bühne projektiert. Eine geschwungene Linie die möglicherweise in einer einzigen Bewegung ausgeführt ist. Auf dem Boden links hinten auf der Bühne liegt ein Stück weißes Papier.
Stille füllt den Raum und Maartje spricht eine Körperformensprache die mich irgendwie an den Begriff eines “höheren Herzens” erinnert. Eine sublimierte Herzqualität. Sie betritt dann das auf dem Boden liegende weiße Papier und hinterlässt dort die Spuren ihrer Bewegungen mit einer schwarzen Kohlekreide. Ihre Hände werden hierbei geschwärzt. Und immer wieder erdet sie sich selber. Sie bring das Gewicht ihres inneren Selbst immer tiefer in den Körper hinein, nach unten. Ich sehe eine geerdete Göttin, die uns in eine herrlich abstrakte Räumlichkeit und Sinnlichkeit hineinführt, die gefüllt ist mit bedeutungsvollen Stillen und einer skulpturalen drei- oder mehrdimensionalen Körperseelenformensprache und einer zwei- oder mehrdimensionalen Grafiksprache.

Marty Hecker, Tatjana Rudenko, Henry Harmer: Global Village

Marthy Hecker & Tatjana Rudenko (und Henry Harmer) – GLOBAL VILLAGE | Foto: © Neil Baynes

Diese Performance muss erst “gedownloadet” werden, und wir steigen dann gleich ein in sozialkritische Szenen die humorvoll aber mit kritischem Blick auf die Technologisierung und Oberflächlichkeit unseres mit Handys und Online Beziehungen gefüllten Alltags weisen. Wie in einer Satire, werden Facebook-likes und Followers zum Ausdruck eines nicht tief genug durchlebten oder durchdachten Verlangens des sich Verbindens und des gesehen und bestätigt Werdens. Wir sehen die Performer im iPhone verschwinden und sich selber vergessend in zügellosem Disco Tanz. Das uniforme iPhone Design wird auch immer wieder auf die Leinwand projektiert, als ob sich das Leben innerhalb dieses globalen, eintönigen Gitters abspielen müsse. Echtes Pathos kommt nur da auf wo das I-iPhone angebetet wird mit “dolor e santo”. Die Performer graben hier in ihrer tiefsten Hingabefähigkeit, um für das Publikum die Absurdität des Anbetens der Technologie ins Bewusstsein zu bringen. Man sieht sie leiden unter Entzugserscheinungen, wenn nur mit sich selber konfrontiert im körperlichen offline Dasein. Verschiedenes Bewegungsvokabular wird hier eingesetzt, um die Thematik auszuarbeiten. Man sieht ein bewusstes sich Entfernen vom klassischen Eurythmie Vokabular, aber dennoch ein bewusstes Verhältnis zur Bewegung an sich als Bedeutungsträger, als Vehikel für Ironie und Gesellschaftskritik.

Milena Hendel, Odetth Zettel: GeGENDER

Milena Hendel & Odetth Zettel – GeGENDER | Foto: © Neil Baynes

Sie sei nur ein Mensch, nicht rot, nicht blau, nicht Mann, noch Frau, nicht lebendig oder tot. Dies ist ein zurückkehrender Refrain in diesem bewegten Podcast, der sich auseinandersetzt mit Geschlechterrollen und deren Verhältnis zu einer Identitätsfindung die den Dualismus zu entsteigen versucht und auch zu entsteigen vermag. Man hört immer wieder aufgenommene Stimmen, die erzählen über was es für verschiedene Menschen bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein. Was für den einen Verrücktheit ist, ist für jemanden anders die reinste Wissenschaft und Milena umkleidet sich mehrere Male mit reiner Weiblichkeit und mit performativen Versuchen zur Darstellung der Männlichkeit im Weiblichem, unterstützt durch Kostümwechseln von weißem Seidennachthemd und Stöckelschuhen, platinblonder Perücke und einfachem und neutralem Hemd und Hose. Auf poetisch sentimentale aber kraftvoll affektierende Pianoklänge wiederholt sie einen Tanz sowohl im weißen Seidenkleid als auch in Hemd und Hose, und wir sehen das hinter diesem Gefühl, hinter diesem vollen, affektierenden Sein und Kommunizieren auf der Bühne eine Kraftquelle steckt, die gender-neutral scheint zu sein oder einfach ist. Man glaubt der Performerin in allem was sie tut, in ihren Identitätswechseln und in ihrer Hingabe. Sie hat etwas zu erzählen und tut dies mit Authentizität und dramaturgischer und theatraler Intelligenz und Erfindungsreichtum.

Livia Menuzzi & Gia van den Akker: Reconvexar

Livia Menuzzi & Gia van den Akker – RECONVEXAR | Foto: © Neil Baynes

Auf der Bühne ein Stapel mit Büchern. Livia kniet daneben und sucht die deutschen Worte des Schlafliedes “Guten Abend, gut Nacht …”. Sie findet die Worte in ihrer Muttersprache, Portugiesisch, und die Stimmung wechselt in ein kontrastierendes upbeat Singen einer Brasilianische Melodie. Der Buchstapel wird umgeworfen und wir sehen Livia eurythmisch tanzen. Sie vereinigt in ihrem Bewegungsidiom sowohl das Durchströmen energetischer, ätherischer, sich immer am Rande des Übersinnlichen bewegender Bewegungsimpulse, welche die Eurythmie kennmerken, als auch die ausgearbeiteten Füße, das schwungvolle Bewegen der Hüften und der Beine, welches eher dem Tanz zugeordnet werden kann. Sie hat Feuer und Musik im Blut, in den Hüften und in den Beinen.
Als sie sich wieder zu den Büchern setzt, findet sie einen Brief ihrer Großmutter und liest ihn uns vor. Die Aufmerksamkeit wird gebracht auf die ewige, unzerstörbare und immer wiederkehrende intime Herzlichkeit zwischen Frauen-Generationen. Es wird auch ein weiser Ratschlag für das Leben gegeben: “Die große Aufgabe Deines Daseins ist …” – ein Auszug von einem Zitat von Schiller zu Goethe. Ich suche zu Hause nach dem restlichen Wortlaut, der meiner Erinnerung und meines Notizbuches entsprungen ist, und finde dieses Zitat von Schiller:
“Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimme die große Aufgabe seines Daseins ist.”

Diese Performance wirft ein Licht auf das Spielerische, das kindlich Naive, die zwischenmenschliche Herzlichkeit und vielleicht auch auf die Unschuld des ganzen Körpers in eurythmischem Tanz. Unterstützt durch die Regie von Gia van den Akker, lässt Livia eine Bewegungssprache entstehen, die das Steinerische Eurythmie Alphabet zu vereinen weiß mit Brasilianischem Hüftschwung und sauberer Fuß Arbeit. Es geschieht etwas mit der Wahrnehmung des Musikalischen über, mit und durch die Bewegungen. Der Raum tanzt mit. Mir fallen auch immer wieder die bewussten Hände auf, bei allen Eurythmisten. Sie hat das Ende des Schlafliedes in Deutsch gefunden „…wirst Du wieder geweckt“. Vielleicht eine Hoffnung auf Erleuchtung durch den tanzenden eurythmisierenden Körper, unterstützt durch geschriebene Buchweisheit und familiärer Liebe?

7.3. 2020 Abendprogramm Spitzy Auditorium

Ensemble IHOCH3: BEAT12HEAVENS

Ensemble IHOCH3 – BEAT12HEAVENS | Foto: © Neil Baynes

IHOCH3 steht für die Steinerischen höheren Ebenen der Erkenntnis der Intuition, Inspiration und Imagination. Deren Steigerung “hoch drei” wird hier zuwege gebracht über eurythmische Improvisation und Komposition durch Selma Fricke, Jona Lindermayer, Michaela Prader und Emmanuel Rechenberg, im Zusammenklang mit dem ersten Satz der Appassionata in F-Moll von Beethoven in zwei Versionen – anverwandelt und original – hochklassig ausgeführt durch Komponist und Improvisator Michael Gees. Kann etwas entfaltet werden das eigentlich schon vollkommen ist? Wie kann Entfaltung gefördert werden ohne Treue an den Geist eines Werkes zu verlieren? Wie kann man den Potenzialen des im Moment werden wollenden in einer anverwandelten und improvisierten Begegnung mit der ikonischen Komposition Beethovens – die in sich selber schon einen überwallenden Schöpfungsdrang und Erfindungsreichtum erfasst – Vertrauen schenken um sich zu manifestieren? Welche ethischen, sozialen und kreativen Bewegungen werden hier von dem Pianisten und den Eurythmisten abverlangt? Was ist der essentielle Unterschied in den zwei Versionen: original Beethoven und Gruppenchoreographie und Beethoven anverwandelt und Gruppenimprovisation?

In der ersten Version die wir erfahren dürfen, der “original” Version der Komposition und der gemeinschaftlich ausgearbeiteten Choreografie, fallen mir die Hingabe und die andächtige Bedachtsamkeit um des eigenen Handelns im Raum im Verhältnis zu den anderen Spielern auf, zu lesen in den Körpern und in den Augen der Performer. In der Schaffungsethik diese Ensembles, liegt in jeder Wiederholung einer “festgelegten” Score schon ein prozessorientiertes ästhetisches Handeln. Man erfährt schon hier, dass die Performer an einer sozialen Evolution arbeiten, welche schon stattgefunden hat im gemeinschaftlichen Entscheiden über die Form der Choreografie und welche im Moment der Performance stattfindet durch die Ausführung ihrer gemeinsamen Entscheidungen.
Die Musik wird sichtbar durch die Menschen, oder vielleicht besser gesagt: das Streben der Menschen nach dem Ideal im schöpferischen Handeln, aus Respekt zur Komposition Beethovens und aus Respekt zu einander, wird sichtbar und fühlbar.

In der zweiten Version, der Anverwandlung der Komposition über die Hände und den Geist von Michael Gees und der Improvisation durch die Eurythmisten wird das unprognostizierbare schöpferische Handeln zentral. Ausgangspunkt ist das unbedingt bedingungslose Mitgehen mit einer Erfindung, die im Moment der Performance entstehen will und diese gemeinsam bis zu einem neuen Erfindungsimpuls auszuarbeiten. Die sozial ethischen Verhältnisse zwischen dem Du, dem Ich und dem Wir sind hier der Nahrungsboden für das Entstehen einer künstlerischen Substanz die unwiederholbar geschaffen wird im Moment des Entstehens.
Auch in der improvisierten Version, gibt eine eurythmische Bewegungsästhetik den Ton an. Es wird improvisiert innerhalb des Rahmens eines eurythmischen Vokabulars. In seiner kurzen Ansprache an das Publikum, erzählt uns Michael Gees das Beethoven sagte, die Musik solle die Funken aus dem Geist schlagen. Herausgefordert durch Beethovens “geniale Unfähigkeit sich selbst zu wiederholen” (Gees) sind die Performer jetzt dem Nicht Wissen über den nächsten Entwicklungsschritt in ihrer gemeinschaftlichen Improvisation sozusagen ausgeliefert. Es steht etwas auf dem Spiel: Ihre Wahl zur künstlerischen Selbstermächtigung im Angesicht des eigentlich nicht zu übertreffenden Erfindungsreichtums der Appassionata als Ausgangspunkt. In ihrem geteilten, verletzlichen Ausgeliefertsein an das unvorhersehbare Neue, braut sich etwas auf und steigert sich letztendlich beinahe unmerkbar auf einen ästhetischen Erfahrungsraum zu, wobei es mir scheint als ob der Himmel sich für einen anhaltenden Augenblick geöffnet habe. Sie haben es geschafft, zusammen, die Funken aus dem Geist zu schlagen. Es scheint mir, dass diese Erfahrung zusammenhängt mit der bewusst eingesetzten Verletzlichkeit der Performer, und vielleicht auch mit der Empfänglichkeit des Zuschauers das Geistige in der Kunst wahrzunehmen. Es brauchte aber seine Zeit und viel Arbeit auf allen Seiten.

Waldorf Lyzeum & Flow Gruppe Prag: Intermezzo

Waldorf Lyzeum & Flow Gruppe – INTERMEZZO | Foto: © Neil Baynes

Erst zeigen uns die Schüler der dreizehnten Klasse des Prager Waldorflyzeums einen “work in progress” einer Gruppenarbeit auf Rachmaninoffs Cello Sonata g minor, Op.19. 2. Satz. Es ist herrlich zu sehen wie diese Jugendlichen Eurythmisten schon wissen wie man Musik verkörpert. Es ist auch herrlich zu sehen wie sich auf den Gesichtern dieser jungen Menschen eine osteuropäische Menschheitsgeschichte abgezeichnet hat. Sie haben schon gelernt in der Musik zu leben. Das gibt Hoffnung für die Zukunft. Aus dem Gesichtspunkt des zeitgenössischen Tanzes betrachtet, sollte angemerkt werden, dass die Bein-, Fuß und Beckenarbeit noch viele nicht ausgeschöpfte Potenziale der musikalischen Verkörperung liegenlässt. Die Musikalität in der Bewegung, die bewegte Heraushebung der Sprachlichkeit in der Musik und die Liebevollheit der Ausführung kompensieren dies jedoch auf überzeugende Weise.

Waldorf Lyzeum & Flow Gruppe – INTERMEZZO | Foto: © Neil Baynes

Dann sehen wir die Flow Gruppe, eine bewegliche Konstellation ehemaliger Waldorfschüler in einer eurythmischen Interpretation von zwei Präludien der lettischen Komponistin Lucia Garuta und eines Textes von Matouš Černý über Schuld und Vergeben. Wir sehen sechs Frauen. Mir fallen die ruhigen Gesichtszüge auf, auch das durchgehend frontale Arbeiten, immer mit dem Gesicht und dem Körper dem Publikum zugewandt, so kennmerkend für Eurythmische Arbeit fortwährend sich seitlich mit kleinen und kurzen Schritten im Raum verschiebend. Die Frauen scheinen danach zu streben eine Universalsprache zu sprechen.

Else Klink Ensemble: “Ich möchte leben”

Else-Klink-Ensemble – ICH MÖCHTE LEBEN | Foto: © Neil Baynes

Diese Vorstellung ist dem Kind-Sein und dem Prozess des Heranwachsens gewidmet. Eurythmisch bearbeitet werden eine Komposition des jungen Gustav Mahlers, getitelt “ich möchte leben.” Dieser Titel ist aus einem Gedicht der mit achtzehn Jahren in einem rumänischen Zwangsarbeitslager verstorbenen Selma Meerbaum-Eisinger entnommen.

Else-Klink-Ensemble – ICH MÖCHTE LEBEN | Foto: © Neil Baynes

Auch werden Fragmente aus einem Text von Peter Handke wiederholt vorgelesen die die Thematik des Kind-Seins unterstreichen: ‘als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war.“ Im Programm lesen wir das der 100ste Geburtstag der Steiner Pädagogik im Sinne einer Erziehungskunst zu feiern sei. Links von der Bühne Musiker und eine Sprecherin, auf der Bühne elf PerformerInnen in farbenfroher Vielfalt, in gelben, blauen, orangenen und violetten Eurythmie Gewändern. Sie sind fortwährend in Bewegung, einfach immer. Es ist an kein Innehalten zu denken. Sie suchen das Kindliche in sich selbst und infiltrieren die Bewegungsdynamik, Textur und die Augenlichter mit innerlich aufgegrabener Kindlichkeit. Sie geben etwas von sich an uns. In der Szene wobei die Sprecherin die Worte “als das Kind Kind war…” in den Raum hineinprojiziert, kommt ein Glitzerball mit ins Spiel. Die erwachsenen Performer setzten sich wie im Kindergarten im Kreis auf dem Boden und der Glitzerball wird das zentrale Objekt des Spieles. Man sieht das es nicht einfach ist, das echte Kind zu finden im Erwachsensein. Auch wenn sie sich kindlich verhalten, sehen wir in erster Linie Erwachsene Menschen, die sich in einem klassisch Eurythmischen Vokabular mit einer spezifischen Thematik auseinandersetzen. Der Ton der Deklamation der Texte trägt eine Waldorfschulen Dynamik in sich. Es ist nicht einfach zu umschreiben, aber es scheint als ob alles überdeutlich und beinahe übertrieben ar-ti-ku-liert sein muss, um die erzielte Sprachkraft zu erlangen. Demzufolge ist es nicht einfach für den Zuschauer, der nicht aus einer Waldorf Kultur kommt, eine natürliche Qualität in der ästhetischen Logik des Gesehenen zu erkennen. In zeitgenössischem Theater und Tanz, ist dies schon beinahe eine Selbstverständlichkeit. Man gibt nicht vor etwas Anderes zu sein, als das man ist. Die Bewegungen sind professionell und klassisch eurythmisch, deutlich ausgearbeitet und artikuliert. Ich fühle auch irgendetwas Heilendes ausgehen von dem unentwegten Fluss des Bewegens der Performer auf das Publikum und vielleicht auch auf das ganze Spital. Man liest wieder ein Gedicht vor: “Immer dort wo Kinder sterben werden die leisesten Dinge heimatlos…” (Nelly Sachs). Und wir hören ein Gespräch unter Engeln aus einem Text von Peter Handke die sich erfreuen an spielenden Erwachsenen, die sich beeindrucken lassen und Neues zulassen. Alle tragen jetzt weiß. Man spricht über das Jetzt und über die Ewigkeit, und erfährt wie Bewegung eine Brücke zwischen Erde und Himmel sein kann, wie Bewegung etwas erahnen lassen kann, ohne es bewusst zu wissen.

Ich sehe zum ersten Mal das Else Klink Ensemble. In meinem Studium, auf der Suche nach Literatur über Eurythmie in der Bibliothek der Hochschule für Theater und Tanz in Amsterdam (AHK), finde ich ein Buch: Wolfgang Veit. Eurythmie. Else Klink, Ihr Wirken in einer neuen Bühnenkunst. Stuttgart: Urachhaus, 1985. Dies war meine erste Einführung in die Kunst der Eurythmie. Es ist gut, das auch heute zu sehen ist, wofür das Else Klink Ensemble steht, die Qualität der eurythmischen Arbeit und das aufrichtige sich schenken der Performer. Doch auch hier scheint mir, ohne Verurteilung und mit viel Respekt, dass dieses Ensemble sich in der ästhetischen Entwicklung auf einer anderen Zeitschiene befindet als zeitgenössisches Theater oder Tanz, was einen Dialog – wenn es Interesse dazu gäbe – erschwert. Doch denke ich, dass da Brücken gebaut werden könnten.

8.3.2020

Eurythmietheater Orval: Meluna, die kleine Meerjungfrau

Eurythmietheater Orval – MELUNA, DIE KLEINE MEERJUNGFRAU | Foto: © Neil Baynes

Eine Vorstellung für Groß und Klein, die einlädt, das Notizbuch liegen zu lassen und einfach nur zu genießen. Ich beschränke mich hier nur auf zwei Worte: MOLTO SIMPATICO.

Wotruba Kirche

Wotruba Kirche | Foto: © Neil Baynes

Die in 1976 fertiggestellte römisch-katholische Kirche wird auch “Kirche Zur Heiligsten Dreifaltigkeit” genannt. Sie entstand aus den Entwürfen des Bildhauers Fritz Wotruba, den Bauplänen des Architekten Fritz Gerhard Mayr und aus der Initiative von Margarethe Ottillinger. Zur Einstimmung erzählt uns Ernst Reepmaker die Geschichte der Kirche im Zusammenhang mit dem Leben und Leiden der Margarethe Ottillinger, die sieben Jahre in sowjetischen Gefängnissen verbrachte und während dieser Zeit viele Male erlebt hatte das Menschen für andere Menschen ein- und in den Tod sprangen. Sie initiierte und förderte den Bau dieser Kirche, um einen ‚Burg des Glaubens‘ zu errichten. Ernst interpretiert die aus 152 rohen Beton-Blöcken konstruierte Architektur mit Hinweisen auf das Zusammenspiel der Lastentragung. An der Nordseite sieht man eine mit Konflikt geladene Dynamik der Auseinandersetzung von Individualisiertem, auf der Südseite, lange erhabene Blöcke die königliche Würde ausstrahlen, an der Westseite eine freistehende Stele, die bis an die Decke des Gebäudes reicht. Man sieht ein Spiel von Leichtigkeit und Schwere, von Licht und Dunkel an der Ostseite wo die Fensterpartien die Kirche nach außen hin öffnen, zum natürlichen Lichteinfall der Sonne und zu den neugierigen Blicken vorübergehender Spaziergänger. Ernst weist uns auf das Wesenhafte der Kirche hin welches sich zwischen den Kontrasten kennbar und erkennbar macht. Eine Brücke zur Eurythmie wird gebaut mit dem Herausheben des Zwischenraumes als Entfaltungsort des Wesentlichen.

Katharina Okamura & Pia Secondo: In-zwischen

Duo Katharina Okamura & Pia Secondo – IN-ZWISCHEN | Foto: © Neil Baynes

Wir sehen nochmals diese zwei beeindruckenden jungen Damen in einer an die Räumlichkeiten angepassten Version von in-zwischen. In einer Art Präludium, sehen wir erst Pia, wie sie sich mit viel Kraft und Willenseinspannung durch den Raum nach vorne arbeitet, in die Richtung des an den Nord-, Süd- und Ostseiten des Raumes sitzenden Publikums. Sie blickt immer wieder zurück, sie durchlebt eine Passion und einen Leidensweg, und legt in tiefer Verzweiflung ein mit sich getragenes Tuch ab. Dann überzieht sie sich mit einem anderen Mantel und schaut mit flehendem Blick nach oben. Katharina fügt sich jetzt zu ihr. Beide schreiten rückwärts, mit den Gesichtern zum Publikum, ohne Berührung miteinander verbunden, bis sie Rücken zu Rücken stehen.
In Stille wenden sich beide der hohen Stele mit der gekreuzigten Christusfigur hin, sie neigen ihr Haupt.

Dann hören wir Fratres von Arvo Pärt, wieder live mit Nathanael und Edgar Petri auf Piano und Violine. Mit hochsensiblem peripherem Bewusstsein gestalten Pia und Katharina den Zwischenraum zwischen ihnen, zwischen ihren Bewegungen und der Musik, und zwischen ihrem alltäglichen Bewusstsein und des Bewusstseins einer gegenwärtigen, zur Demut beinahe zwingenden Macht. Das Zittern und vorsichtig Tasten der Füße wiederspiegelt sich im zitternden Laut der Violine. Ihre Augen treffen sich nie, aber sie sind unentwegt voneinander bewusst und miteinander verbunden. In stetig fließenden Bewegungen gehen sie alle Wege zusammen, mit Hingabe und Liebe, bis sie stillstehen.

Ich erstaune mich über ihre innerliche Reife.

Schostakowitsch Ensemble: Adam, der Mensch zwischen Licht und Finsternis

Schostakowitsch Ensemble – ADAM, DER MENSCH ZWISCHEN LICHT UND FINSTERNIS | Foto: © Neil Baynes

Eine Zusammenarbeit von Künstlern aus den Niederlanden, Russland, Polen, Litauen, Israel und Georgien/Ukraine. Thema ist die Babylonische Sprachverwirrung als Gegensatz zum Pfingstgeschehen. Die Eurythmisten werden begleitet von Klavier und Orgel, Gesang und gesprochenen Texten in verschiedenen Sprachen. Die Urgeschichte von Adam – oder des Menschen – steht hier im Zentrum des weit auseinanderklaffenden Bruchs zwischen dem Licht und der Finsternis. Diese Menschen versuchen, über das Medium der Eurythmischen Kunst, wieder Einheit zu schaffen, über alle nationalen, persönlichen und sprachlichen Unterschiede hinweg. Wir hören Erzählungen der Geschichte des werdenden Anfangs in verschiedenen Sprachen – auf Hebräisch, auf Russisch, auf Niederländisch… Wie Wolken, die aus dem nichts entstehen, sich formen und wieder weiterziehen, bevölkern verschiedene eurythmisierenden Gruppen den Raum der Kirche. Sie bewegen in dreier oder vierer Gruppen, jede Gruppe ist gekleidet in anderen Farbtönen. Sie stimmen sich innerlich auf das Wesen der verschiedenen Sprachen ab und wir sehen verschiedene Interpretationen desselben Textes. Mit tiefen, langanhaltenden Tönen trägt uns die Orgel in eine Imagination eines kosmischen Urbeginnes. Die Performer sind dem Publikum körperlich sehr nahe, es bleiben manchmal nur zehn Zentimeter zwischen den sitzenden Beinen des Publikums und den über den Kirchenboden lauschenden Füssen, die einen Weg finden müssen in nächster Nähe zueinander durch den Raum zu navigieren, doch ohne einander anzuschauen oder zu berühren. Man könnte ihre Blicke begegnen, aber sie lassen sich nicht aus ihrem Innenraum holen. Ihre Gesichtszüge sind oft streng und beherrscht, sie sind sich sehr bewusst von ihrem Innenraum im Verhältnis zum Umraum der Kirche, jedoch bleibt ein unnahbarer Abstand zwischen ihrer performativen Präsenz und der beobachtenden Präsenz der sitzenden Zuschauer. Der Ursprung jeder Bewegung ist immer tief im Inneren der Performer, die Art wie sie bewegen hat etwas Unpersönliches, eine gewisse abstrakte Formalität und Gewichtigkeit, welche der zeitgenössische Tanz eigentlich schon lange von sich abgelegt hat. Im zeitgenössischen Tanz wird oft gefragt, eine nicht “zu heilige” Präsenz anzunehmen, um eine so authentisch mögliche Natürlichkeit in der Bewegung zu leben. Hier bringt das Heilige eine Schwere und vielleicht auch teilweise eine Unzugänglichkeit. Wie verhalten sich beide zueinander? Kann die Eurythmie auch “natürlich” Heilig sein? Es ist auf jeden Fall berührend, diese Menschen in einer eigentlich gewichtigen theatralen Haltung die vielleicht eher auf einer großen Bühne wirken könnte so aus der Nähe zu sehen, die Gesichtszüge beobachten zu können, ihre Auseinandersetzung mit ihren eigen Idealen und den Idealen der Tradition, zusammen Form gegeben, beobachten zu können.

Im zweiten Teil beginnt der Raum der Kirche mitzusprechen. Die Orgel hat eine Intensität erreicht, die es erscheinen lässt, dass die Betonklötze mit den Resonanzen der Musik, der Sprache und der Bewegungen mitschwingen. Wir sehen vier Frauen die deutlich aus ihrem Ich heraus den Raum mit Bewegung gestalten. Ein Eurythmist kniet vorne vor dem Publikum. Es werden Engel angerufen: Michael, Raffael, Gabriel, Uriel. Wer nicht bewegt, steht still da, statisch und so würdig wie möglich. Es gibt viel Raum für Stille, für Stille und Bewegung, für Sprache und Bewegung und für Musik und Bewegung. Jedes Verhältnis spricht auf eine andere Art und Weise. Man spürt Windhauche von den vorbeiziehenden Eurythmisten und den in fließende Bewegung gebrachten Kostümen. Über Sprach- und Nationalitätsbarrieren hinweg, sprechen sie eine Sprache der Energie, man kann ihre gutwilligen Intentionen beinahe spüren. Im Rückwärtsgang verlassen die Performer den kirchlichen Bühnenraum. Alltägliche Geräusche des Tagesraumes außerhalb der Kirche brechen herein. Wir lauschen, und die Kirche lauscht mit.

Während des Orgelsolos, kann der Blick durch die Kirche wandern. Am Kreuz, ein anonymer Jesus ohne Gesicht, mit in zerbrechlichen Winkeln gebrochenen Armen. Vier Damen treten wieder ein, mit weit ausgebreiteten, in die diagonale Höhe strebenden Armen. Auch während den Bewegungen, kann man weiter den Raum worin diese Bewegungen sich fügen, mit dem Blick ertasten. Es scheint als ob die Qualität der Bewegungen sich nun verdichtet, man erfährt die intensive Anstrengung, die gefordert ist, um mehr Substanz an die Bewegung und an ihren Einfluss auf die Textur des Raumes zu geben. Langsam gleiten sie durch den Raum und verlassen ihn wieder im Rückwärtsgang.

Ein gesprochener Text erzählt über Keilschrift und das Universum von Babylon, während ein Eurythmist das Wesen des Inhaltes dieses Textes in eine körperliche Formensprache übersetzt. Viellicht ist Eurythmie eine Energieformsprache?
Der Kontrast zwischen den Materialien des Kreuzes aus Eisen, des Wachses der Kerze und den wie auf Watten gelegten Orgeltönen kommt mir jetzt in das Bewusstsein.
Der Text spricht vom Tragen des Kreuzes und vom ersehnen des Lichtes, und die Eurythmisten zirkulieren unentwegt und unermüdlich seitlich umeinander herumbewegend durch den Raum. Die Melodien werden durch die Körper getragen, wir sehen singende Körper.
Wieder ein Text: „sicher ist es meine Schuld, wenn das Licht nicht da ist wo ich bin“.
Alle bewegen sich langsam, verlangsamend, getragen und tragend nach draußen, wo die Sonne scheint.

Unterwegs zum Flughafen ist sich auf einmal jeder des Zwischenraumes unter einander bewusst, jedoch ist dieses Bewusstsein nicht aus der Bewusstseins Schulung einer Bewegungskunstform herausgewachsen, sondern aus Angst vor dem Corona Virus. Es ist das erste Mal, das ich dieses Zwischenraumbewusstsein im Alltagsraum sehe.

Suzan Tunca
*1975 studied theatre dance at the highschool for the arts in Arnhem. Since 1998 she has worked as a dancer, choreographer and choreographic assistant in the Netherlands and internationally. Until 2005 she collaborated among others with Krisztina de Châtel and Dylan Newcomb. With her solo works, she invested in a longterm dialogue between the dancing body and the development of interactive music technology transcribing motion into sound. Between 2005-2013 she danced with Emio Greco | PC. In 2007 she was nominated for the “swan most impressive dance performance” in the Netherlands. 2015 she completed a research MA artistic research at the University of Amsterdam with the video work and live performance “The Logic of the Dancing Body” and a written thesis “Esoteric Dimensions in the Logic of the Dancing Body.” She is currently researching dance at ICK Amsterdam under the thematic umbrella of dance documentation, notation and knowledge transfer, teaching and coaching dance and choreography students in artistic research at Codarts University of the Arts and at the MA choreography COMMA and is a PhD candidate at PhDArts Leiden University.