Auseinandersetzung Eurythmie Salon

Kjell-Johan Häggmark

im Eurythmie Salon an der Alster | 7. November 2021

Kjell-Johan Häggmark | Foto @ Conny Fischer

Zum Sich-selbst-befragen fordert uns Kjell Häggmark am Ende seines Salonabends auf:

„Wer ist die Architekt:in in uns? Wer ist die Bildhauer:in in mir?
Wer ist die Maler:in in mir? Wie bin ich, wenn ich male?
Wer ist die Musiker:in in mir? Wer ist die Sänger:in in uns?
Wer ist die Redner:in in mir? Wer ist die Schauspieler:in in uns?
Wer ist die Dichter:in in uns? Wer ist die Dramatiker:in in uns?
Wer ist die Clown:in in uns? In mir?
Wer ist die Tänzer:in mir? Wie bin ich, wenn ich tanze?
Wer ist die Eurythmist:in in mir? ….“

Manche Fragen könne Kjell mittlerweile leichter für sich beantworten als andere. Zum Beispiel den Musiker in ihm; den könne er greifen, sagt der 68-jährige, aber der Eurythmist sei nicht so leicht: „Daran arbeiten wir noch, da haben wir ja gerade erst angefangen.“ Die Eurythmie ist etwas über 100 Jahre alt und damit recht jung, verglichen mit der Musik etwa.

Hamburg, Rudolf-Steiner-Haus: Den 7. und damit letzten Eurythmie-Salon in diesem Jahr beginnt Kjell mit einer Erzählung, wie ein junger Mann zur Eurythmie gekommen ist; und erzählen kann er! Mit ausdrucksstarker Gestik und Mimik erzählt er immer wieder von seinem eigenen Leben, als seien es Geschichten anderer und er der Erzähler: „Es gab zu dieser Zeit, auf einer kleinen Insel mit Bauern und Fischern, ein Dorf….“ Der junge Mann, der zur Eurythmie kommt, ist er selbst. Seine Leistungen auf einer naturwissenschaftlichen Schule hatten ihn zum Arzt bestimmt, doch die Werbung einer Nordischen Volkschule für das Studium „Umweltschutz, Drama und Malerei“ legt andere Weichen: Für Kjell war es wie ein Blitzeinschlag, ein Lichterlebnis; „Das ist es!“, in aller Deutlichkeit. Er beginnt das Studium und betritt damit ein neues Umfeld.

Kjell-Johan Häggmark | Foto @ Charlotte Fischer

„Es ist eine andere Pädagogik als die bisher gängige in Schweden möglich?“, staunt Kjell als er das erste Mal von der Waldorfpädagogik hört. „Es gibt mehr Kategorien als Raum und Zeit?“, staunt er nach einem Gespräch über Annahmen von Aristoteles. Solche Momente, wie diese beiden, heben ihn aus seinen bisherigen Denkstrukturen. In beiden Momenten verliert er fast sein Bewusstsein, ihm klappen die Beine weg. Auch bei einer Eurythmie-Aufführung von Bruckners „Erinnerung“ findet er sich im Anschluss an einer anderen Stelle im Raum wieder, auf dem Boden sitzend, ohne Erinnerung, wie er dort hingekommen ist. Kjells erste Begegnung mit der Eurythmie ist im Rudolf Steinerseminariet in Järna (Schweden), bei der Heileurythmistin Gunvor Kumlander: „Am hce [das hce ist eine eurythmische Grundübung, bei der die Töne h, c und e bewegt werden] habe ich Monismus erlebt: Der Zusammenklang von Musikerin und Eurythmistin! Da war ich mir sicher, dass nicht nur Dualismus, sondern auch Monismus existiert,“ erzählt er. All diese Erlebnisse „direkter Wirksamkeit“ werden für Kjell zum Apell, selbst etwas zu tun, um anderen solche Erlebnis-Momente zu ermöglichen. Und so beginnt er nach einem Hin und Her zwischen Kunst und Wissenschaft – beim Medizinstudium fehlte ihm schlussendlich die tiefe innere Gewissheit: „Das will ich!“ – das Eurythmie-Studium in Järna.

1976: Im 1. Ausbildungsjahr, kurz vor Ostern, zieht er heimlich los, um sich andere Eurythmie- Ausbildungen anzuschauen; offiziell durfte man das in dieser Zeit noch nicht. Er rennt keine offenen Türen ein. In Stuttgart darf er, nach einem zweiten energischen Anlauf, hospitieren. Nachdem er in Dornach von Elena Zuccoli darauf hingewiesen wird, er habe keinen Termin bei ihrer Sekretärin vereinbart, und Lea van der Pals, beides dortige Ausbilderinnen, bei einem Treffen drei Stunden von sich redete und keine einzige Frage an ihn stellte, fährt Kjell noch ein zweites Mal zum Eurythmeum in Stuttgart. Dort trifft er nun Else Klink, die Leiterin, persönlich an: „Was willst du? Warum nimmst du das [das Reisen, die „Gastunfreundlichkeit“] auf dich?“, fragt sie ihn und Kjell beschließt zu bleiben.

Auf seinem offen-sichtlichen Weg der medizinischen Wissenschaft macht ein junger Mann einen kleinen Abstecher auf eine Anhöhe am Wegesrand, und siehe da: das Land des Künstlerischen breitet sich vor ihm aus. Mit einer Diashow, Titel „1001 Begegnungen“, wird deutlich, dass Kjell auf seiner Lebenswanderung durch die unterschiedlichsten künstlerischen Sparten, Eurythmie, Sprache, Musik, Bühnenbild, Management, Kostüm, Maskenbild, etc., vor allem eines wichtig ist: Die Begegnungen mit Menschen. Er lässt uns in ein digitales Album gucken, was vor allem eines ist: Bunt.

„Ich erzähle heute Abend aus meinem Leben mit der Eurythmie von Aspekten, die sind, waren oder vielleicht werden wollen.“ Kjell zu Beginn

Kjell berichtet an diesem Abend von zwei Suchen, die ihn im Laufe der eurythmischen Bühnenarbeit beschäftigt haben. Vieles mehr gäbe es zu erzählen, doch an diesem Abend findet nur ein Abschnitt seines Lebens Platz.

Foto | © Conny Fischer

Die eine Suche fragt nach dem Zusammenhang zwischen Eurythmie und Schauspiel: „Wie schaffe ich Eurythmie im Zusammenhang mit Schauspiel so, dass sie dabei lebendig bleibt?!“ Ein Aspekt dazu, auf den Kjell uns an diesem Arbeit hinweist, ist „die Gestaltung von Übergängen“. Er verdeutlicht das anhand von Videoausschnitten. Wir schauen in die Duo-Arbeit „Match Boys Patch“ mit Christiane Görner von 2019, in welcher die „mit-zu-verfolgende-Verwandlung“ im Fokus steht; der Zuschauende ist beim Übergang vom alltäglichen in den eurythmischen Raum, und wieder zurück, dabei. An einer anderen Arbeit von 1996 „Heitere Verquickungen von Schauspiel | Eurythmie | Musik“ mit dem Ensemble „M & friends“¹ nehme ich ein durchgehend gemeinsames Bühnen-Agieren aller Künstler:innen wahr. Die einzelnen Stücke sind als ein Ganzes komponiert; die Übergänge stehen in ihrer bewussten Gestaltung den Stücken in nichts nach; oft werden sie durch musikalische Elemente und Beleuchtungswechsel gegriffen. Dazu kommt, dass der Sprecher durchgängig in Verbindung zum Publikum bleibt, auch wenn er schweigt. Auch die Künstler:innen vollziehen Rollen-Übergänge, wenn sie von Eurythmie oder Sprache in die Musik wechseln. Für Kjell steckt in dem Miterleben von Bühnen-Verwandlungen und in der bewussten Gestaltung von Übergängen ein Schlüssel für eine lebendige Eurythmie, wenn sie mit anderen künstlerischen Räumen gemeinsam auf der Bühne steht.

„Ihr seid ja nur Repräsentanten, keine Menschen!“
Backstage-Crew zu den Eurythmist:innen der „Peer Gynt“-Aufführung (Oper Frankfurt a.M., 1984); da diese selbst bei geschlossenem Vorhang keine persönliche Regung zeigen, ihr Applaus-Ritual nicht verlassen.

So leitet Kjell seine zweite Frage an die eurythmische Bühnenarbeit ein: Man könne sich hinter der Form verstecken und nicht anwesend sein; er erlebe oft „Perfektheit ohne Wirkung“ auf der Bühne. Er bringt eine ganze Reihe an Situationen an, in denen er mit diesem Thema konfrontiert war. „Sie hatten sich selbst im System aufgelöst. Keiner [der Eurythmist:innen] freute sich persönlich über den Applaus von einem ausverkauftem Haus“, berichtet er von der Peer Gynt-Aufführung in der Oper Frankfurt a.M. Da wundert es nicht, wenn in dem einen oder anderen Zuschauenden die Frage aufkommt: „Wo bist du? Wo seid ihr?“ Folgendes Zitat, das Kjell vorliest, aus dem Probentagebuch einer Regieassistentin² von 1993 unterstreicht dieses „Phänomen“:
„Morgens besuchen wir Kjells Inszenierung vom „Tapferen Schneiderlein“. Was besonders auffällt neben schönen, verspielten Kostümen, dass alle Darsteller schweben, mit abgeklärten oder anders gesagt: ausdruckslosen Gesichtern. Sie alle existieren vom Bauchnabel aufwärts mit einem großen, aber gesichtslosen Kopf. Die einzige Regung in Form eines Lächelns kommt (beim Applaus) von Kjell. Ist die Eurythmie lediglich ein sich sinnlich gebender Kopf?“
Die Spitze des Berges zeigt sich wohl in folgendem Beispiel: 1972 gibt es nach einer Faust-Aufführung im Goetheanum einen 30-minütigen Protest-Applaus, um den mitwirkenden Eurythmist:innen eine persönliche Regung zu entlocken, die nicht geschieht. Neben der enormen meditativen Leistung, die das fordert, und die ich bewundern kann, frage ich mich, welchen Sinn dieses „keine spontane Resonanz zu lassen“ hat? Das solche „rituellen Facetten“ beengen können und den Eindruck vom freien Menschen eher verfehlen, verdeutlicht eine weitere Geschichte Kjells: Bei einem Faschings-Fest der Freien Waldorfschule Elmshorn schämt Kjell sich dafür kein „ordentliches“ Kostüm zu tragen; er schämt sich für sein „Nicht-in-Ordnung-sein“. Alle anderen Lehrer:innen scheinen einem unausgesprochenen „Dresscode“ zu folgen; nur er trägt ein aus Zeitnot wild zusammen gestückeltes Kostüm, in dem er auf die Bühne muss, um die Beiträge seiner Schüler:innen an zu moderieren. Im Anschluss bekommt er von Eltern die Rückmeldung, sie seien erleichtert und dankbar gewesen, dass er den „Dresscode dieser Feiern“ durchbrochen hätte. Durch all diese Erlebnisse wird Kjell deutlich, dass vieles Repräsentation ist – was, by the way, kein Einzelphänomen der Eurythmieszene ist – und so ist jeder gefordert sich zu fragen: „Was will ich denn repräsentieren?“

Neben der Bühnenarbeit nimmt in Kjells Leben einen weiteren großen Teil die pädagogische Eurythmie in Schulen und Kindergärten ein. Auch hier sind seine Fragen und Methoden tief und grundlegend: „Was braucht der Mensch, um gesund zu bleiben?“ „Pro Tag: Einmal gesehen werden – intentional gesehen: Wer bist du? -, und ein kreatives Moment pro Tag“, zitiert er Dr. med. Barbara Tress (2009). Auch stößt er im Laufe seiner Arbeit auf eine tanzpädagogische Methode von Elisabet Sjöstedt Edelholm und Anne Wigert (2005), die u.a. zwischen der direkten und der indirekten Vermittlung unterscheiden, und betonen, wie wichtig es ist, beide zu kennen und zu können. Kjell erläutert uns diese kurz. Die Vorteile der direkten Vermittlung, die auf Vormachen und Anleiten basiert, sind: Man kommt schnell ins Tun, es ist deutlich, was zu tun ist, und es kann eine planbare Aufführung statt finden. Der Nachteil ist: Kein kreatives Moment der Teilnehmenden. Die Nachteile der indirekten Vermittlung, die auf Anregung zu eigener Tätigkeit beruht, sind: Trägheit in Gang zu kommen, es ist viel Vorbereitung nötig und es besteht keine Garantie für ein bestimmtes Ergebnis. Der Vorteil ist: Kreativität. So versucht Kjell selbst bei den Kleinsten, die meist noch ganz in der Nachahmung leben, ein kreatives Moment, eine Anregung zur eigenen Tätigkeit, einzubauen. Er lässt es uns selbst erfahren, in dem er uns einen Spruch und eine entsprechende Bewegung nachahmen lässt; denselben wiederholend in verschiedenen Charakteren. Und dann? „Macht den Spruch in eurem Tempo einmal durch und wählt euren Lieblingscharakter!“
Für mich wird an der konkreten Schilderung methodischer Fragen deutlich, dass Kjell ein sehr wacher, reflektierender und an der eigenen Entwicklung interessierter Mensch ist, nicht müde werdend Anderen Fragen zu stellen und sich selbst zu befragen. Auch heute mit 68 Jahren arbeitet Kjell noch in mehreren Kindergärten und Schulen und engagiert sich im Berufsverband der Eurythmist:innen. „In Rente gehen haut finanziell eh noch nicht hin“, merkt er humorvoll an.

Als „ein feiner, kreativer Beobachter“ wurde Kjell an diesem Abend von Tille Barkhoff begrüßt, und so schließt dieser feine, kreative Beobachter seine Erzählungen mit den Worten: „Ab jetzt können Sie gehen…..oder auch nicht.“ Ich bleibe mit einem Lächeln sitzen und mache mir Notizen für diesen Bericht.


¹) „M & friends“: Eurythmist:innen: Kjell Häggmark, Friederike Kemper, Friederike Schlobinski. Sprecher: Gerhard Meyer. Musiker: Hans Peter Wirth. Beleuchtung: Christian von Pilsach (Prometheus Lighting). Kostüme | Bühne: Kirsten Gerhard.

²) Regieassistenz zu „ICH + DEINE WELT, die Geschichte einer fremden Freundschaft“ von Willy Thomas | Herbert Enge; Choreograph: Kjell Häggmark.