Rezension

Mehr als „Namen tanzen“

- Eurythmie und das Wesen der Sprache -

Tille Barkhoff | © Carola Kröpke

Wer auf einer Waldorfschule war, hört hin und wieder die Frage „Kannst du deinen Namen tanzen?“. Wie tief diese Frage in Wahrheit geht und wie eng die Verbindung zwischen Eurythmie und dem Wesen der Sprache ist, zeigt die Eurythmistin Tille Barkhoff im Eurythmie Salon an der Alster. Durch ihre eurythmischen Erfahrungen in der deutschen und russischen Sprache kann sie erlebbar machen, was es bedeutet, sich wirklich in eine Sprache einzufühlen.

Wie lernt man als deutsche Muttersprachlerin Russisch? Man kann einen Sprachkurs machen, ein Austauschjahr – oder man hat Glück und lernt es in der Schule. Vielleicht sogar von einer Person, die in der Sprache mehr sieht, als Vokabellisten und Grammatikregeln. Oder man macht es wie die Eurythmistin Tille Barkhoff: Ohne jegliche Vorkenntnisse nach Russland gehen, um dort die Eurythmie und die Ausführungen Steiners ins Russische zu übersetzen und eine Ausbildung anzubieten.

Diese Erfahrung macht Tille Barkhoff erlebbar, als Sie im Eurythmie-Salon an der Alster als Solistin auf der Bühne steht. Die monatlich im Rudolf-Steiner-Haus Hamburg stattfindende Veranstaltung wurde ins Leben gerufen, um die Eurythmie auf neue Weise greifbar zu machen: aus dem Leben der individuellen Biografie von Eurythmistinnen und Eurythmisten heraus, die ihren persönlichen Zugang dazu, ihren eigenen künstlerischen Werdegang und gerne auch bestimmte Wendepunkte oder Brüche zeigen und damit viele Facetten der Eurythmie auf einmalige Weise vermitteln können.

Darunter auch viele spannende Aspekte, die bislang im Verborgenen blieben.

Nach Bettina Grube, Carina Schmid und Melaine MacDonald ist Tille Barkhoff an der Reihe, die als Waldorfschülerin mit der Eurythmie groß geworden ist. Vielleicht hat auch sie die eurythmischen Laute auch zunächst über die ihres Namens gelernt und somit „ihren Namen getanzt“, wie die meisten Waldorfschüler und -schülerinnen.

Eurythmie-Form von Rudolf Steiner eigens ergänzt – „damals ein mutiger Schritt!“

Eigentlich wollte Tille Barkhoff Heileurythmistin werden, fiel aber in der Ausbildung zunächst an vielen Stellen mit ihrer künstlerischen Begabung auf. Sie ging ans Eurythmeum, arbeitete dort in der Bühnengruppe und tourte mit großen Werken durch die Lande: Schuberts Unvollendete, die Hebriden-Ouvertüre von Mendelssohn und die Worte der Grundsteinlegung von Rudolf Steiner zusammen mit Else Klink auf der Bühne. In ihren Erzählungen wird bereits deutlich, dass Tille die Dinge gern anders macht und sich was traut. „Rudolf Steiner hat eine toneurythmische Form zu einer Klaviersonate von Mozart gezeichnet – aber nur für den ersten und letzten Teil. Den Mittelteil hat er ausgelassen. Ich fand, dass man sie so nicht aufführen kann und hab diese Form ergänzt. Damals war das noch ein richtig mutiger Schritt!“ berichtet sie schmunzelnd.

Foto © Conny Fischer

Tille Barkhoffs Motto des Abends heißt Grenzen und Fragen. Schnell wird ersichtlich, dass sie sich selbst als Forschende, als Fragestellerin mit der und durch die Eurythmie bewegt. So in ihrer Interpretation einer Fuge von Alfred Schnittke, einfühlsam begleitet von Alan Newcomb. Musikalisch beginnt diese wie eine Bach-Sonate, wechselt dann aber in etwas Unerwartetes. Dieses Unerwartete ist auch ein prägendes Element des Abends, auf das Tille Barkhoff immer an den Grenzen stößt, die sie auf verschiedenste Weise schildert.

 

Eurythmisch stellt sie es hier sehr energetisch dar: Sie erschafft sich kraftvoll im Zusammenspiel mit der Musik einen Raum und kann die große Bühne des Rudolf-Steiner-Hauses ganz alleine beeindruckend gut füllen. Es wird erlebbar, wie sie zunehmend an Grenzen stößt, innerlich wie äußerlich. Mal prallt sie ab, mal greift sie den Schwung des Widerstandes auf und lässt daraus eine neue Bewegung entstehen, mal wirkt es, als würde sie diese Grenze untersuchen, erforschen. In anderen Worten: mit den Energien der Grenze spielen und arbeiten.

Wie sich später noch zeigen wird, ist es kein Zufall, dass sie dieses Erlebnis künstlerisch an den Anfang stellt, auch wenn sie nicht viele Worte darüber verliert.

„Grenzen und Fragen“ bedeutet nämlich auch, dass alle Zuschauenden eine große Eigeninitiative und eigene Fragen an das Erlebte herantragen dürfen. So wäre auch dieser Artikel auf bestimmt zehn verschiedene Arten möglich gewesen, weil Tille so viele Anknüpfungspunkte geboten hat.

Die weichen und harten Konsonanten im Russischen

Tille berichtet nun von einem einschneidenden Element in ihrer Biografie: Nach ihrer künstlerischen Zeit, sie hatte gerade doch den heileurythmischen Weg eingeschlagen, wurde sie von Nikolai Konvalenko angefragt, mit nach Russland zu kommen, um dort die Eurythmie zu lehren. „Damals war die Grenze nach Russland noch dicht und diese Begegnung mit ihm war an sich schon sehr besonders!“.

Spannend, wieder das Thema Grenze.


Deutschland und Russland waren damals so voneinander abgegrenzt, wie für Tille die deutsche und russische Sprache. Sie hatte keinerlei sprachliche Vorkenntnisse, aber eine Mission. Deshalb beschäftigte sie sich mit Rudolf Steiners Angaben zu weichen und harten Konsonanten in der russischen Eurythmie. Sie selbst erlebte dadurch „Asymmetrie“, „Spannung“ und „Energien“ in der Bewegung. Was das wohl bedeutet?

Das zeigte sie dann sogleich anhand einer sehr eingängigen Übung, die tief mit dem Wesen des Russischen zu tun hat und sehr berührend aufzeigt, was damit eigentlich gemeint ist.

„Im Russischen gibt es weiche und harte Konsonanten. Die weichen werden „so“ [Bewegung von rechts zum Körper hin – Energie heran-ballend], die harten wiederum „so“ [Bewegung links vom Körper weg – Energie freilassend] gebildet. Und mit dem Vokal komme ich eigentlich erst in die eigene Mitte.“

So arbeitete sie sich erlebend langsam in die neue Sprache hinein, im Alltag und in der Eurythmie.

„Vorher habe ich überhaupt kein Russisch gesprochen, ich habe es dort auf der Straße gelernt, wie ein Kind eine Sprache lernt. Parallel dazu habe ich die Eurythmie-Ausbildung ins Russische übersetzt. Man musste jeden einzelnen Begriff in diese andere Sprache, die andere Grammatik übersetzen, das andere rhythmische Gefühl dieser Sprache finden und erklären, wie das eurythmisch umgesetzt werden kann. Das war eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Russischen.“

Ihr Kollege hat nie für sie übersetzt – sie saß dabei und hat den ganzen Tag russisch gehört, nachts davon zu träumen begonnen und sie im Halbschlaf wie energetisch-wesenhaft erlebt. Das alles half ihr sehr, zu verstehen, was Steiner gemeint hatte mit dem Wesen und dem anderen Rhythmus, vielleicht auch der anderen Energie dieser Sprache. Anhand der Konsonanten-Übung beschreibt sie weiter, was das genau bedeutet:

Die deutsche Sprache ist plastisch, die russische energetisch

„Diese rechts-links Bewegung durch die harten und weichen Konsonanten im Russischen sorgt dafür, dass es, im Gegensatz zum Deutschen, ganz stark in eine Asymmetrie kommt. Im Deutschen ist alles sehr plastisch. Aber im Russischen geht es ganz viel um das Sammeln und Abgeben von Energie. Ich sammle hier Energie – ich gebe sie dort ab. Es ist vielmehr ein Stauen und Lösen, ein Druck und ein Sog.“

Jetzt wird auch klar, warum sie dieses Stück zu Beginn und diese Art von Interpretation gewählt hat – wobei zu diesem Zeitpunkt das Thema Sprache noch gar nicht im Raum gestanden hatte. Sie hat gefühlsmäßig, vom Erleben her uns schon mal darauf eingestimmt, so wie sie auch selbst erstmal durch das Erleben an diese Qualitäten gelangte, erst dann kam das Verstehen.

„Für mich fühlt sich das oft an wie eine andere, neue Qualität von Elektrizität. Eine Spiegelung der Elektrizität, wie ein Plus- und Minuspol. Stets miteinander in Spannung. Es erinnert auch stark an Yin und Yang, was ja auch die Grundlage für die fernöstlichen Bewegungsformen ist, die auch mit dem Lebendigen zu tun haben. Ich habe oft das Gefühl, das Russische ist schon auf dem Weg hin zu dieser Art von Bewegungsqualität, wie man sie im Thai Chi oder Chi Gong erleben kann.“

Ja, die Eurythmie ist mehr als nur Namen tanzen, weit mehr. Es geht um ein inneres Erlebnis des Wesens der Sprache. Dieses individuelle Lebendige, Ätherische, das jede Sprache durchzieht und in der Eurythmie dargestellt und erlebbar gemacht werden kann, hat letztlich auch überraschend mit Tille Barkhoffs zweitem Thementeil zu tun: den Fragen. Was zu Beginn als eine „erforschende Haltung“ ihrerseits beschrieben wurde, begründet sie mit einem spannenden Erlebnis:

„Fragen haben eine andere ätherische Gestalt als eine Behauptung. Behaupte ich, stelle ich etwas fest. Da kann man sich dran abstoßen. Aber wenn ich eine Frage stelle, eröffne ich einen Raum. Und das ist eben diese Sogkraft, dieses Ätherische!“

Als Tille Barkhoff im zweiten Teil des Abends noch Fotos aus ihrem Werdegang zeigt und mit dem Publikum ins Gespräch kommt, drückt sich in ihrem Erforschen des Ätherischen auch eine besondere Sehnsucht unserer Zeit aus, speziell in der Corona-Krise.

„Wie kann ich das Lebendige, Ätherische, die Lebenskräfte aktivieren? Das geht unter anderem über Fragen. Wenn ich dir eine Frage stelle, geschieht etwas zwischen uns. Wir sind beide aktiv. Es entsteht Sog, wie auch die Sonne die Pflanzen aus der Erde zieht. Danach suche ich in und mit der Eurythmie. Wie kommen wir dem, was unsere Welt so dringend braucht, immer näher? Das ist eben dieses Lebendige.“