Barfuß wird die Bühne betreten, mit Finger an der Schläfe beginnt ein Urgesang, aus dem aufgestaute Verzweiflung als ungefilterte Emotion tönt, bleischwer niederzudrücken weiß und nachher als heißes Eisen für Diskussion sorgen wird. Eine Dame fühlt sich an schamanische Klänge erinnert, der Darsteller will sein Tun aber standhaft von altgriechischen Klagegesängen als Inspiration abgekupfert haben.
Mit eigens für diese Produktion geschmiedeten Eiseninstrumenten, unter anderem einem im hinteren Bühnenbereich aufgehängten Gong, werden Töne zu Lärm entstellt, aus wohlklingenden Klangkörpern schrille Frequenzen gekratzt und geprügelt, die zu einer bedrängenden Komponente werden.
Man verzichtet auf ein ausuferndes Bühnenbild, verwendet stattdessen Geräusch als Kulisse und den Fluss der Gebärden als Requisiten, die selbstständig untermalen, nachäffen, vorwegnehmen, ausschweifen oder parallel anderes erzählen.
Man kippt in eine atmosphärische Arbeit, die assoziativ Anstöße gibt, Ton und Bewegung wirken dabei wie das lupenreine Aufdröseln des Schauspielenden, stellen abwechselnd in auditiver und visueller Form sein Innenleben vergrößert dar. Eines untermalt das andere, stört es gleichermaßen, sodass oftmals die grundlegende Frage auftaucht, ob es sich um eine Ergänzung oder eine Überreizung handelt.
Derselbe Wortlaut, mit dem das Stück und das Festival zugleich eröffnet wurde, schließt auch die erste Aufführung wieder ab, allerdings in einer optimistischeren Betonung:
Sie haben mich oft bedrängt von meiner Jugend an, aber sie haben mich nicht überwältigt.
Am Schauplatz des Festivals werden aus drei inzwischen vertrauten Gesichtern sechs unvertraute – in erdenden Farben kostümiert, lassen sie eine neue Zeit anschlagen. Aus der gerade noch gegenwärtigen Ich-Bezogenheit gerissen, kommt nun eine Umwelt ins Spiel und mit ihr eine Interaktion, die an den Gedanken des ersten Stückes anschließt: Wie steht der Mensch seinem Schicksal gegenüber und wie kann er mit diesem umgehen?
In einer charmanten Ausgelassenheit ziehen drei Königssöhne auf Abenteuersuche durchs Land. Während die zwei älteren Brüder sich stets Unruhe stiftend über die Natur stellen wollen, fällt es nicht schwer, sich auszumalen, wie der sogenannte Dümmling in das typische Märchenbild zu passen hat: Der Einfaltspinsel zeichnet sich mit Rücksichtnahme auf die Tierwelt aus und als es hart auf hart kommt, da wird ihm auch von Ameisen, Enten und Bienen, bei denen er etwas gut hat, geholfen, den Zauber eines Schlosses zu brechen und die jüngste Prinzessin ausfindig zu machen.
Man zeigt sich experimentierfreudig, wagt (womöglich auch aus Personalmangel) den schreitenden Schritt von der klassischen Eurythmie weg, sodass ungewohnter Weise der Sprecher des Ensembles selbst eine aktive Figur darstellt, übt sich in feinfühliger Situationskomik, die stimmungsauflockernd kurze Passagen goldig macht.
Besonders gefallen wollen die durch Menschen dargestellten Mauern und Türen des verzauberten Schlosses, hier steckt wohl eine umfangreiche Metapher dahinter, dessen Bedeutung einem jeden klar wird, der sich schon in der Situation befand, wohl auch dem Zeitgeist entsprechend, sich selbst gelegentlich als die größte Hürde seines Daseins zu enttarnen.
Kurz darauf hört man in der Garderobe ein Kind in nachklingender Euphorie sagen: «Zum ersten Mal wie ich Eurythmie gesehen habe, habe ich mich gefragt, ob das nicht auch Kung-Fu ist. »
Erneut wechseln die Gesichter, was gerade noch auf der Bühne tobte, wird hinter dem Vorhang gegen eine neue Besetzung getauscht, die andere Herangehensweise und Gestalten verspricht.
Fünf junge Darstellerinnen führen mit einleitendem Gesang und Tanz in die virtuelle Welt eines Computerspiels namens Zero ein, das barfüßige Aufstampfen dabei lässt die Angelegenheit episch werden. Auch hier ist man abenteuerlustig, statt mit Prinzessinnen wird allerdings mit Splittern belohnt.
Ein gerufenes SHIFT lässt die Szenen wechseln. Was am Computer gedrückt gehalten aus Klein- Großbuchstaben werden lässt und aus Zahlen Sonderzeichen macht, hat auch in dieser Inszenierung entscheidende Bedeutung – so dient hier das SHIFT als Sprunggelenk zwischen den narrativen Zeiten. Auf zwei Erzählebenen wird das Schicksal eines jungen Menschen geschildert, der im Verlauf des Spieles den Bezug zu der Welt außerhalb des Bildschirmes verliert.
Zum ersten Mal bietet eine Vorstellung Interaktivität an, so generiert das Publikum unter anderem einen launischen (sexy) Goblin und eine quirlige Dunkelelfe als Spielfiguren. Die Zusehenden erfreuen sich der Spontanität und des Miteinbezogenwerdens. Mittels einer Loopstation wird auch die Soundkulisse eines Dschungellevels erzeugt, das Publikum steuert Geräusche von Vögeln, Reptilien, einer Affenfamilie und das Trampeln einer Nashornherde bei.
Der Herzschlag geht hoch bei dieser fesselnden Inszenierung, mitreißende Musik (man lässt auch elektronische Klänge Dezibel beisteuern), beeindruckende Choreographien und hippe Gebärden (auch der Hüftschwung findet endlich Platz in der sonst prüde geglaubten Eurythmie) und eine abschnittweise ansteckende und von Anglizismen und Alliterationen durchzogenen Sprache (plug ´n play) beweisen, dass die Eurythmie auch als interdisziplinäre Kunstform funktionieren kann. Dabei handelt es sich um eine angenehme Vermischung unterschiedlicher Genres, die dem ganzen Stück Pfiff gibt, ohne aufs Herkömmliche zu pfeifen.
Eine angenehme Entschleunigung bietet Anschluss, diesmal drei Frauen, die sich die Rolle eines Mannes teilen, eine Erzählerin mit zwei eurythmischen Schatten, die sich wiederum gegenseitig mit ihrer überzeugenden Leistung schlichtweg ebenfalls in den Schatten stellen und per Mantelübergabe abwechselnd den Protagonisten überlassen.
Dies ist eine schöne Art, die innere Zerrissenheit der Figur zu zeigen, welche gleichzeitig auch ein Heraustreten aus dem Charakter möglich macht, eine Distanz zur Figur bedeutet und ihr gleichzeitig neue Facetten zu Gute kommen lässt.
Im Zentrum des Stückes befindet sich erneut das Thema des Schicksals, diesmal im Aspekt der Zeit und wofür es wann wohl zu spät sei.
Man muss den Mut zur Langsamkeit dieser Inszenierung loben und das Vertrauen, Längen wirken zu lassen, denn man bekommt das Gefühl, es wortwörtlich mit einer erzählenden Eurythmie zu tun zu haben, die emotional präzise ist: Gestik, Mimik, Sprache und sogar die Blickwinkel der Augen sind mit großer und authentischer Detailverliebtheit umgesetzt, alleine die drei unterschiedlichen Arten mit zwei Stühlen und drei Frauen das Liftfahren darzustellen, deutet auf eine sonst ebenso gegenwärtige und originelle Verspieltheit hin.
Das Verschmelzen der Komponenten wird hier auf ergreifende Weise präsent, aus einer Monotonie entsteht ein melodischer Dialog und stellt die hoffnungsgebende Frage in den Raum: Kann da noch mehr sein, als das triste Leben in diesem Loch? Die Entwickelung vom Sich-schon-abgefunden-haben zum Wunsch nach Veränderung begleitet das Stück. Und letztlich kommt es zu einer Veränderung – nur vielschichtiger und anders als erwartet.
Der Rumpf der Bühne verschluckt die Darstellenden, es bleibt nur eine Nacht zum Verdauen, bis es wieder Zeit ist, dass neuer Stoff von neuen Gestalten durchgekaut wird.
Man taucht in eine imaginäre Stadt ein, Klaviermusik dient als Zwischenspiel der unterschiedlichsten Viertel der seltsamsten Gesinnungen, die in Gebärden Ausdruck finden.
Imponierende Kostümwechsel, die ineinander übergehend kaum Lücken lassen, dabei ist alles, was benötigt wird, auf Sessel an den Seiten der Bühne platziert – was da für eine Ordnung und Routine dahinterstecken muss!
Nach dem Spaziergang durch die imaginäre Stadt, folgt eine eurythmische Inszenierung zur h-Moll Sonate von Liszt. Mit höchster Sensibilität werden Formen zur Musik gefunden, die die Komplexität des musikalischen Werkes in mitreißender Wirksamkeit wiederspiegeln, man kippt förmlich in die Klangwelt hinein und kann jede Bewegung der Darstellenden mitfühlen.
Hier wird bewiesen, dass die anthroposophische Bewegungskunst auch im klassischen Sinne ihre Berechtigung hat und stark im Ausdruck sein kann, ohne auf große Effekte zurückgreifen zu müssen, denn was geboten wird, ist eine eloquente, elegante, engelsgleiche und erotische Eurythmie. Und gerade hier beweist sich der kleine Aufführungsraum des Off-Theaters als die richtige Wahl für dieses Festival – durch die Nähe zur Bühne wird das Dargestellte richtig packend, es ist so, als ob man im Auge eines Sturmes säße.
Wie fordernd die über dreißig Minuten lang durchgehende Inszenierung der Sonate auch für die Darstellenden ist, merkt man in ruhigen Minuten der Musik, in welchen ihre Atemgeräusche einen eigenen Rhythmus bilden.
Mit den letzten Schlusstönen und dem Verbeugen wird einem bewusst, aus welcher Konzentration die Aufführenden erwachen und aus welcher Konzentration man selbst soeben erwacht.
Gerade ist man noch am Bedauern, dass die eben gesehene Darbietung auf Musik aus der Dose zurückgriff*, quasi lisztigerweise Sparmaßnahmen betrieb, da ist die Freude groß, als festgestellt wird, dass nun ein Klavier auf der Bühne steht und Chrysothemis in Erzähllaune vorgefunden wird.
Am Blatt hat sie eine Journalistin zu Besuch, die stumm Fragen formuliert. Tatsächlich fragt man sich immer mehr, wer diese Frau, die als Journalistin verstan-den werden soll, wirklich ist. Und ob sie in Gebärden spiegelt, was ihr erzählt wird oder ob es ihr Innenleben beim Zuhören ist, welches sie zum Ausdruck bringt. Oft wirkt sie auch wie eine Komplizin und gar nicht wie ein aufmerksames Gegenüber. Eine, die alle Rollen aus der Erzählung von Chrysothemis einnimmt und damit präsent macht, die Figuren aus der Erinnerung für kurze Momente wiederaufer-stehen lässt.
Ein ständiges Überschreiten der Grenzen findet statt, eine große Vertrautheit beweist das Groteske der Situation, denn beinahe könnte man schon die Journalistin als ein Mädchen im Nachthemd interpretieren, welches gerade ins Bett gebracht wird und noch eine Gutenachtgeschichte zu hören bekommt.
Das friedliche mit sich selbst und seinem Schicksal ins Reine kommen, steht im Mittelpunkt, erinnert sehr an das erste Stück des Festivals, zu ärgerlich ist es, dass sich die zwei Protagonisten verpasst haben, zu gerne hätte ich ihn in ihrer Gegenwart Mut machend sagen gehört, dass man ihn zwar ständig bedrängt hatte, sie ihn aber niemals überwältigt hätten und sie, sie würde nach einigem Widersprechen und dann doch Rechtgeben am Ende des Dialoges befreit antworten, wie sie es nun auch ohne seinem Zutun über die Lippen bringt: «Jetzt kann ich gehen, glücklich ermüdet. […] alle um Verzeihung bitten. Und für mich selbst: Die letzte Verzeihung. »